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Tropen, Benedicamus Domino, Cantionen

Reinhard Strohm

Wenn der einstimmige Kirchenchoral, der selbst bereits in chorisch und solistisch vorgetragene Abschnitte gegliedert war, durch Tropierung und/oder Zusatzstimmen ausgeschmückt wurde, ergaben sich zahlreiche Gliederungsungsmöglichkeiten im Vortrag eines liturgischen Gesanges. Bereits innerhalb der Einstimmigkeit gab es komplexe Anordnungen oder geradezu „Inszenierungen“ solcher vielgliedrigen Gesänge.[41] Beim Einbeziehen von Mehrstimmigkeit waren vorzugsweise die geübteren Chormitglieder für Tropen, Solostrophen und Zusatzstimmen verantwortlich.[42] Hinzukommt, dass Tropustexte oder versus schon seit dem 11. Jahrhundert (u.a. in der aquitanischen Polyphonie) manchmal in strophischer Form mit Refrains gesungen wurden, was eine weitere Abwechslung zwischen solistischer Strophe (in unseren Quellen versus genannt) und chorischem Refrain (repeticio) innerhalb des neugeschaffenen Gesangsabschnitts ermöglichte.

Ungeachtet ihrer manchmal komplizierten Herleitung von Choralmelodien erreichten viele Tropen im 13.-14. Jahrhundert den Status eigener Gesänge.[43] Solche Tropen sind öfters in nichtmensuraler Mehrstimmigkeit überliefert, z.B. der Prozessionstropus Alle dei filius zur Osterantiphon Cum rex glorie, der durch Austextierung des die Antiphon beschließenden Alleluia entstand, aber als zweistimmiges Lied Triumphat dei filius bis in die Neuzeit weitergelebt hat (vgl. » A. Kap. Die Osterprozession; » Notenbsp. Triumphat dei filius).

Wenn mehrstimmige Tropen an besonders populäre Gesänge der Liturgie angebunden wurden, dürften sie selbst weit bekannt geworden sein. Tropen zum Salve regina, Ave regina celorum und anderen Mariengesängen sind oft zweistimmig notiert. Besonders gut bekannt waren der Salve regina-Tropus Virgo mater ecclesie und der Tropus Ab hac familia zum Marienoffertorium Recordare virgo.[44]

Viele Kirchenlieder, die das 16. Jahrhundert aus dem Mittelalter ererbt hat, waren ursprünglich aus Tropen entstanden; die für diese Entwicklung wichtigste Gattung war das Benedicamus domino. Es wurde alternierend zwischen Solisten und Chor (Respons „Deo gratias“) am Ende der größeren Stundengebete und z.T. der Messe gesungen; mehrstimmige Fassungen der verschiedenen Choralmelodien gibt es seit dem 12. Jahrhundert. Aus den oftmals tropierten Versionen des 12. bis 14. Jahrhunderts entstanden strophische Cantionen mit Vers und Refrain, auch auf neu erfundene Melodien, und schließlich Kirchenlieder.[45] Besonders alte Benedicamustropen, die in Europa weithin als mehrstimmige Lieder bekannt waren, sind Ad cantus leticie und Dies est leticie. Der zweistimmige Weihnachtstropus Procedentem sponsum de thalamo, mit einem literarisch anspruchsvollen Text, ist offenbar unabhängig von einer Choralmelodie als zweistimmiges Lied geschaffen worden: Die Stimmen kreuzen sich mehrmals und sind genau gleichberechtigt; das Stück ist aus etwa 25 Quellen bekannt, aber offenbar nie einstimmig überliefert, was eine Ausnahme wäre (vgl. » A. Kap. Weihnachtliches Hohelied: Göttweig, mit » Notenbsp. Procedentem und » Hörbsp. Procedentem).

[41] Vgl. Beschreibungen des Introitustropus Flos de spina procreatur und der Cantio Resonet in laudibus im Seckauer Cantionarius (A-Gu Cod. 756) in » A. Gesänge zu Weihnachten.

[42] Dass in einer späten Phase auch die Orgel zur Begleitung herangezogen wurde, betont Johannes Wolf 1937, S. 36.

[43] Zu einem konkreten Ablösungsvorgang vgl. Strohm 2019.

[44] Vgl. Göllner 1961, S. 25 bzw. 27, beide nach GB-Lbl add. 27630.

[45] Harrison 1965Strohm 19662009, 2019.