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Mehrstimmige Soloabschnitte von Graduale und Responsorium

Reinhard Strohm

Obwohl solche mehrstimmigen Abschnitte gern isoliert aufgezeichnet wurden, muss man sich die Aufführungen meist als planvolle Abwechslung von Chor und Soli, von cantus planus und oft stärker verzierten oder neu erfundenen solistischen Einschüben vorstellen.[28]

Ein auffallendes Beispiel ist die zweistimmige Einleitung zum Graduale der dritten Weihnachtsmesse Viderunt omnes fines terrae in der Handschrift » A-Iu, Cod. 457, fol. 79v-80r: » Abb. Viderunt omnes/Vidit rex; » Hörbsp. Viderunt omnes/Vidit rex.[29]

In diesem Stück ist derselbe Textabschnitt, „Viderunt omnes“, zweistimmig vertont, der in berühmten Pariser Organumkompositionen von Magister Leoninus (oder Leonius, ca. 1150-1200) und Perotinus (um 1200) zweistimmig bzw. vierstimmig gesetzt worden war. Es ist der vom Cantor solistisch anzustimmende Beginn des Gradualresponsoriums. Die nur zehn verschiedenen Töne, die in der zugrundeliegenden Choralmelodie den Worten „Viderunt omnes“ zugeteilt sind, werden in diesen Kompositionen mit überreich melismatischen Zusatzstimmen im Organumstil oder „Haltetonstil“ ausgestattet. Im zweistimmigen Organum von Leoninus unterbricht den Fluss der Koloratur nur ein kurzer rhythmisierter Abschnitt („Diskantuspartie“) bei der Silbe „om-“.[30] Cod. 457 bietet eine andere Zusatzstimme, die etwas häufiger konsonant ist und viele Dreiklangsmotive enthält. Sie kreuzt manchmal unter die Choralstimme, liegt aber meist darüber und hat den beträchtlichen Gesamtambitus f-c” (ihre einzige Phrase über g‘ erklingt allerdings erst gegen Ende bei den Worten „traditur et capitur“). Wo die Choralstimme die Tonhöhe ändert, trifft die Zusatzstimme mit ihr im Einklang oder Quintabstand zusammen. Die Zusatzstimme wurde geschaffen, um den Tropustext Vidit rex omnipotens vorzutragen, der gleichzeitig mit der Choralmelodie gesungen wird. Er lautet:

Vidit rex omnipotens quod ex culpa patris Ade
filii caruerunt quod patres possiderunt,
restituit filiis hodie quod patres perdiderunt.
Qua racione, quo consilio nostra paretur restauracio,
nobis condoluit dei miseracio?
Quia si corruit humana propago, venit nos redimere dei miseracio,
patris obediens sic imperio, caro virginis fit in gremio?
O beata dei miseracio, [quae] traditur et capitur, occiditur et moritur,
cuius morte sanantur omnes.[31]

(Es sah der allmächtige König, dass durch Adams Schuld
Die Kinder entbehrten, was die Väter besaßen:
Er gab den Kindern heute zurück, was die Väter verloren.
Aus welchem Grund, welchem Ratschlag wird unsere Wiederherstellung bereitet werden,
und hatte Gottes Erbarmen Mitleid mit uns?
Warum, wenn das Menschengeschlecht verdarb, kam Gottes Erbarmen uns zu retten,
indem es so dem Befehl des Vaters gehorchte, im Schoß der Jungfrau Fleisch wurde?
O seliges Erbarmen Gottes, das verraten und gefangen wird, getötet wird und stirbt,
durch dessen Tod alle geheilt werden.) (Übersetzung R. Strohm)

Der Tropustext ist so verfasst, dass er alle Bestandteile der Choralworte „Viderunt omnes“ an strukturbestimmenden Stellen erklingen lässt (Hervorhebung im Druck) und dadurch selbst in die Choralworte eingebettet erscheint. In der Handschrift ist der Tropustext unter die aus repetierenden Einzelnoten gebildete Wellenlinie der originalen Choralmelodie geschrieben (vgl. »Abb. Viderunt omnes/Vidit rex). Die wenigen Silben des Gradualtextes jedoch stehen unter der Zusatzstimme: eine Vertauschung, die an das Kyrie fons bonitatis in A-Gu Cod. 9 erinnert. Trotzdem muss der Tropustext von der Zusatzstimme vorgetragen werden, zu der er in meist syllabischer Deklamation (abgesehen von einem eröffnenden Melisma) genau passt.

Mehrstimmige Responsoriumsverse des Offiziums sind in der Region gelegentlich überliefert; eine größere Gruppe davon steht in den Antiphonarien aus St. Lambrecht, » A-Gu Cod. 29 und » A-Gu Cod. 30.[32] Der zweistimmige Vers Tamquam sponsus zum Weihnachtsresponsorium Descendit de celis wurde wahrscheinlich eher in Böhmen gepflegt.[33] Die Sammlung A-Iu Cod. 457 bietet gleich zu Beginn ein herausragendes Beispiel dieser Gattung: das Responsorium Iudea et Ierusalem zur ersten Weihnachtsvesper mit dem Vers Constantes estote.[34] (Vgl. » Abb. Iudea et Ierusalem.)

Abb. Iudea et Ierusalem

Abb. Iudea et Ierusalem

Responsorium zu Weihnachten Iudea et Ierusalem, und Beginn des Benedicamus-Tropus Procedentem sponsum, in » A-Iu Cod. 457 (Österreich, Ende 14. Jh.), fol. 72r. © Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Innsbruck.

Responsorium zur 1. Weihnachtsvesper. Es sind nur die zweistimmigen Abschnitte aufgezeichnet. Nach „Iudea et Ierusalem“ wird zunächst einstimmig weitergesungen. In Parallelhandschriften sind diese Anfangsworte weggelassen, da sie ebenfalls einstimmig gesungen wurden.[35] Am Ende der Seite: Beginn des Benedicamustropus Procedentem de thalamo (» Kap. Tropen, Benedicamus domino, Cantionen).

Was diese Niederschrift des Responsoriums von anderen (in den Handschriften » CH-EN Hs. 314 und » GB-Lbl add. 27630) unterscheidet, ist die mehrstimmige Ausführung nicht nur des Verses Constantes estote, sondern auch der Einleitung zum Responsorium selbst und dazu des abschließenden Gloria patri: Damit sind alle solistisch vorzutragenden Gesangsabschnitte durch zweistimmig-klangliche Ausgestaltung hervorgehoben. In dem Fragment A-Wn S.n. 228 (aus Salzburg? 14. Jahrhundert) erscheint das Responsorium Notum fecit dominus mitsamt seinem Vers Ante conspectum sogar durchgehend zweistimmig; ihm folgt ein durchgehend zweistimmiges Responsorium In principio erat verbum mit zweistimmigem Gloria patri.[36]

[28] Beispiele: Flos de spina procreatur (einstimmig) » A. Gesänge zu WeihnachtenBenedic domine » A. Kap. Zweistimmiges Singen.

[29] » A-Iu Cod. 457 wird in » K.1 Musikalische Quellenportraits genauer beschrieben. Ein detailliertes Inventar der Handschrift ist Stenzl 2000.

[30] Vgl. die Einspielung von David Munrow und dem Early Music Consort of London, mit analytischer Transkription: https://www.youtube.com/watch?v=_p9WQlyVPrA.

[31] Satzzeichen ergänzt. Die fettgedruckten Stellen erklingen gleichzeitig mit den entsprechenden Silben des Originaltextes.

[32] Das Responsorium Benedic domine und sein zweistimmiger Vers Conserva hoc wird in » A. Kap. Zweistimmiges Singen dargestellt.

[33] Vgl. Celestini 1995, S. 23-24, und 2002, S. 121-123, zur Handschrift » A-RB 60.

[34] Göllner 1961, S. 40-44, 134-141, Notenbeispiele S. 149-151; Göllner 1989, S. 183-188 mit Faksimile von » A-Iu Cod. 457, fol. 72r, beide Male im Vergleich mit der Fassung des Pariser Magnus liber organi*. Abb. und Kommentar bereits bei Wolf 1913-1919, Bd. 1, S. 215.

[35] Kommentar und Edition anderer Fassungen in Göllner 1961, S. 40-44 und 150f.

[36] Klugseder-Rausch 2011, S. 113-116, Nr 56 mit Abb. und Transkription.