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Notationsweisen klösterlicher Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

Obwohl nichtmensurale Mehrstimmigkeit gewöhnlich mit Neumen oder Quadratnotation auskam, ist sie doch vor allem im 15. Jahrhundert auch in anderen Notationsformen überliefert. Solche Unterschiede waren teilweise kultureller Art, teilweise reflektierten sie die Veränderungen von Stil und Ausführungsweisen der Mehrstimmigkeit selbst. Aus eher praktischen Gründen wurden manchmal beide Stimmen auf demselben Notensystem, aber in verschiedenen Farben, notiert.[54] Dies empfahl sich vor allem in Note-gegen-Note-Sätzen mit demselben Tonraum für beide Stimmen und dementsprechend auch bei Stimmtauschtechnik. Ein auffallendes Beispiel aus dem zentraleuropäischen Raum ist die Epistel Populus gentium im Antiphonale » PL-WRu R.505 der Elisabethkirche in Breslau/Wrocław: » Abb. Epistel Populus gentium (Lectio Ysaie prophete).[55]

Abb. Epistel “Populus gentium” (Lectio Ysaie prophete)

Abb. Epistel “Populus gentium” (Lectio Ysaie prophete)
Antiphonale der Elisabethkirche Breslau/Wrocław, datiert 13. Dezember 1426. » PL-WRu R.505, fol. 227r (207r) (nach RISM BIV/3, S. 1162-1164). © Universitätsbibliothek Wrocław.
Die meisten mehrstimmigen Abschnitte dieser Lesung sind in zweifarbiger Notation gehalten. Nur die zweistimmigen Verse Manifesta declarant und In semper o pie (fol. 229v-230r) sind nacheinander, in rein schwarzer Notation aufgezeichnet.

Strichnotation (stroke notation) wurde vielerorts in Europa gebraucht, oft für weltliche Musik oder instrumentale Ausführung.[56] Sie erlaubte, auch rhythmischen Vortrag in einfacher Weise zu fixieren, ohne dass die Regeln der Mensuralmusik beachtet werden mussten. Im österreichischen Raum begegnet sie gelegentlich bei kirchlicher Mehrstimmigkeit, z.B. in der Wiener Organistensammlung » A-Wn Cod. 5094 (» K. A-Wn Cod. 5094: Souvenirs), und in den Fragmenten » A-Ssp Cod. a.VI.47 und » A-Ssp Cod. a.IV.7 eines Salzburger Kantorenbuchs für die Akklamationen „Et cum spiritu tuo. Amen“ und „Et cum spiritu tuo. Gloria tibi domine“.[57] Diese kurzen Response wurden wahrscheinlich von der allgemeinen Schola zweistimmig gesungen.

Zwei Quellen der Region verwenden Buchstabennotation für klösterliche Mehrstimmigkeit, allerdings nur für den „Tenor“: » A-Wn Cod. 3617[58] und » A-Wn Cod. 4898 (beide aus Mondsee). Diese Aufzeichnungen stehen isoliert in nichtmusikalischen Zusammenhängen. Vielleicht haben sie mit der Praxis von Organisten zu tun.

Seit dem späten 14. Jahrhundert kannten klösterliche Musiker mensurale oder annähernd mensurale Aufzeichnungsweisen für den cantus fractus, also den einstimmigen, aber strikt rhythmisierten Vortrag besonderer Choralgattungen (» A. Rhythmischer Choralgesang). In der mehrstimmigen Praxis nimmt der Gebrauch eigentlicher Mensuralnotation selbstverständlich langsam zu und ist als „Zeichen der Zeit“ zu werten. Man muss jedoch fragen, was er über die betreffende Quelle aussagt und welchen musikalischen Zwecken er dienen sollte. Handschriften, die von vornherein für spezialisierte Kenner der Mensuralnotation angelegt wurden, sind die Sammlungen » A-M Cod. 950 (1462, mit Mensuraltraktaten und zwei Beispielstücken: » C. Mensuraltheorie - Didaktische Aufbereitung) und » A-MB Man. cart. 1 (Ende des 15. Jahrhunderts).[59] In A-Iu Cod. 457 erscheint Mensuralnotation erst bei den drei letzten Stücken, und ist von anderer Hand geschrieben (um 1400?). In dem südböhmischen Graduale » CZ-VB Ms. 42 („Hohenfurter Liederhandschrift“), datiert 1410, sind von 13 mehrstimmigen Stücken die letzten 12 in verschiedenen mensuralen Formen aufgezeichnet, teilweise in schwarzer und roter Notierung auf einem System.[60] Es gibt u.a. in Italien Aufzeichnungen, die eine Stimme in Choralnotation und die andere in Mensuralnotation wiedergeben:[61] Sie implizieren, dass verschieden geschulte Sänger an derselben Aufführung teilnahmen.

[54] In » Abb. Sanctus A-VOR 22 (» Kap. Melodie und Klang: Vorau) sind die beiden Stimmen zwar farblich unterschieden, aber auf zwei Systemen notiert.

[55] Die gesamte Lesung ist ediert in Göllner 1969, Bd. I, S. 155-158, mit Kommentar S. 333f. Vgl. auch die überwiegend einstimmige Fassung derselben Lesung in A-Iu Cod. 457, fol. 77v-79v, bei Göllner 1969, Bd. I, S. 147-151 und S. 330-332 (mit vollständigem Textabdruck).

[56] Vgl. Strohm 1993, S. 352-357, und » B. Non-mensural polyphony (Marc Lewon).

[57] Zur Quelle vgl. » B. SL Christ ist erstanden. Das Fragment A-Ssp Cod. a.XII.25 fr. 31 (früher a.IX.3) stammt aus derselben ursprünglichen Handschrift.

[58] A-Wn Cod. 3617 (Kyrie magne deus) wird als Orgelstück besprochen bei Göllner 1961, S. 80-82. Vgl. auch » C. Kap. Kyrie magne deus potencie.

[59] Zu beiden Quellen vgl. Angerer 1979, S. 151-157, mit Edition des Marienliedes Begrüßet seist du, Königin aus » A-M Cod. 950. Zum Triumphat dei filius im selben Codex vgl. »A. Kap. Die Osterprozession und » Notenbsp. Triumphat dei filius.

[60] Rothe 1984 (Faksimile), S. 371-429.

[61] Beispiele bei Strohm 1989, Nr. 4 und 9; Gallo-Vecchi 1968, Nr.  XXIXXXIIXXXIIIXCVIICXXCXLVIIICXXIIICXXIV, XC-XCIII.