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Verbreitung in Europa

Reinhard Strohm

Für den italienischen cantus planus binatim zählt F. Alberto Gallo 39 Quellen auf, über die Zeit vom späten 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert verteilt, und erklärt diese „kleine Zahl von Handschriften“ mit einer vorwiegend mündlichen Überlieferungspraxis.[76] Der unablässige Zustrom neuer Quellenfunde (über mehrere wird bereits in Gallos Band von 1989 berichtet) könnte auch diese vernünftige Erklärung letztlich in Frage stellen.[77] Jedenfalls ist in ganz Europa die Überlieferung nichtmensuraler Mehrstimmigkeit etwa proportional der Anzahl erhaltener einstimmiger Choralquellen, die in Frankreich und England wegen späterer Verluste geringer ist als in Zentraleuropa und besonders Italien. Spanien, Südosteuropa (soweit zum lateinischen Ritus gehörend) und Skandinavien sind ebenfalls in der Überlieferung proportional zu ihrem Anteil an Choralquellen vertreten. Der Bereich des lateinischen Ritus in Europa umfasst derzeit weit über hundert Quellen nichtmensuraler Mehrstimmigkeit, mit Hunderten einzelner Stücke. Die letzteren sind durch Konkordanzen verknüpft; es gibt also weniger verschiedene Stücke, mit erheblicher Streuung von musikalischen Varianten (Singweisen). Wie erwähnt, fand sowohl mündliche als auch schriftliche Übermittlung statt.

Obwohl einzelne Gesänge fast überall in Europa (mit Varianten) auftauchen, differenziert sich die Auswahl der Texte und Gattungen, der einzelnen Vertonungen und der individuellen Singweisen deutlich nach Kulturregionen. So sind z.B. die niederländisch-norddeutschen Sammlungen des 15. Jahrhunderts zwar mit einzelnen Konkordanzen an die zentraleuropäischen Regionen angeschlossen.[78] Das böhmische Repertoire von Cantionen und Tropen seit der vorhussitischen Zeit steht überlieferungsmäßig dern Quellen der österreichischen Region sehr nahe; es gibt auch spezifische Repertoirekontakte etwa zwischen Böhmen, dem Rheinland und Dänemark (vielleicht durch franziskanische Vermittlung).[79] Jedoch wurden besonders in den Niederlanden auch viele neue Gesänge geschaffen, die nicht in andere Regionen gelangten.[80] Die Gattungsprioritäten sind ebenfalls regionaler Natur: Mehrstimmige Lesungen sind dominant in Zentraleuropa, jedoch selten in Italien. Benedicamus domino-Stücke machen in Italien zwei Drittel des Gesamtbestandes aus. Auch gibt es offenbar eine allgemeine chronologische Verschiebung der Produktion vom europäischen Westen, wo die ältesten Quellen zu finden sind, nach Süden und Osten, wo das 15. Jahrhundert als das fruchtbarste erscheint. Die Region Österreich ist in Gattungen, Texten und Singweisen eng mit den angrenzenden Gebieten verknüpft – aber auch, mehr fallweise, mit anderen europäischen Ländern. Man pflegte eine allgemeine europäische Musiktradition und ein überregionales Repertoire individueller Stücke, aber in jeweils eigenen Singweisen und Zusammenstellungen. Das Verhältnis von Individualität und Konformität in dieser Kunst entsprach nicht zufällig den Organisationsformen der kirchlich-monastischen Kultur in ihrer geographischen Verbreitung selbst.

[76] Gallo 1989, S. 14; vgl. dazu auch Treitler 1989, S. 145.

[77] Ein neuer Überblick steht dringend aus.

[78] Hascher-Burger 2002.

[79] Zum böhmischen Repertoire vgl. besonders Ciglbauer 2017. Zur Verbindungen mit Dänemark vgl. Bergsagel 1989.

[80] Volkssprachliche Texte wurden selten in andere Volkssprachen übersetzt.