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Kulturelle, musiktechnische und historische Aspekte nichtmensuraler Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

Kulturell: Die nichtmensurale Mehrstimmigkeit entsprach besonders der rituellen Praxis und der Lebensanschauung regulierter geistlicher Gemeinschaften. Sie wurde aber nicht nur in Klöstern gepflegt, sondern auch in weltkirchlichen Institutionen (z.B. Domkapiteln, Kollegien, Pfarrkirchen und Schulen). Da sie keine Beherrschung der mensuralen Regeln erforderte, konnte sie von Mitgliedern des allgemeinen Chores erwartet werden, die auch für das einstimmige Choralrepertoire zuständig waren. Allerdings wurde sie gern geübteren Sängern anvertraut, die vorzugsweise die Solopartien der Choralgesänge auf diese Art hervorhoben. Man entwickelte auch neue mehrstimmige Stücke, etwa für Weihnachten und andere Hochfeste, und schuf viele neue Texte mit ihren Melodien: Tropen, Conducten und Cantionen.

Musiktechnisch: “Discantus” und “cantus figuratus” sind in vielen Schriften des späten Mittelalters äquivalente Benennungen. Entscheidend war für beide, dass die Intervalle auf Fortschreitungsregeln des Kontrapunkts (Note-gegen-Note, die einfachste Form regulierter Polyphonie) beruhen sollten.[9] Diese vertikale Komponente, die Harmonie, hing jedoch mit der horizontalen, dem Rhythmus, ursächlich zusammen. Denn imperfekte Konsonanzen und Dissonanzen konnten unter der Bedingung in den Satz einbezogen werden, dass sie auf kürzere Notendauern (Durchgangsnoten) erklangen oder durch Verschiebung der Stimmen gegeneinander (Vorhalte) hervorgerufen und wieder aufgelöst wurden. Dazu war mensurale und „kontrapunktische“ Rhythmik notwendig.[10] Die unterschiedlich notierten Notenwerte des cantus figuratus erlaubten, einen ganz aus perfekten Konsonanzen bestehenden homorhythmischen Satz durch Abwechslung zwischen verschiedenen Klangqualitäten aufzulockern, z.B. indem Sexten zwischen Quinten oder Dissonanzen zwischen Konsonanzen eingeschoben wurden. Nichtmensural konnte man solche Einschübe zwar praktisch ausführen, aber nicht im Notenwert genau fixieren. Dasselbe galt für die beliebte Borduntechnik („Haltetonstil“), d.h. Koloratur in einer Stimme gegen festgehaltene Tonhöhe in einer anderen, wo die Notendauer dissonierender Intervalle ganz dem Vortrag überlassen blieb.

Historisch: Der allgemeine Status der europäischen Mehrstimmigkeit bis zum 12. Jahrhundert war nichtmensural. Das bedeutete, wohlgemerkt, nicht die Abwesenheit von Rhythmus, denn wie in der Einstimmigkeit konnte man auch mehrstimmig rhythmisch singen, vor allem bei simultanem Textvortrag und nach mündlicher Absprache über die regelmäßige Verteilung langer und kurzer Noten. Erst die Mensuralmusik der Ars antiqua des 12.-13. Jahrhunderts änderte dies mit ihrer schriftlichen Regelung der Notendauern, zunächst durch das System rhythmischer Modi und später durch mensurale Festschreibung jeder einzelnen Stimme und Note. Nach Göllner und anderen bewahren die Zeugnisse der “frühen Mehrstimmigkeit” eine ältere Praxis, die von der Pariser Ars antiqua bereits verlassen worden war. Deren Mensuralsystem habe überhaupt erst das schriftliche Komponieren ermöglicht; [11] es war jedenfalls eine Voraussetzung für komplexe Polyphonie. Es förderte die im 13.-14. Jahrhundert beliebten Gattungen der Motette, des Hoquetus und der fuga (Kanon, Imitation), die kürzere Notenwerte zulassen und jeder Stimme einen verschiedenen Textvortrag erlauben. Weil viele Institutionen und ihre Musiker aber weiterhin bei älteren, nichtmensuralen Praktiken blieben und geistliche Autoritäten den Discantus oft bekämpften (» Kap. Ablehnung der Mehrstimmigkeit), war die Tradition nun gespalten. Nichtmensurale Mehrstimmigkeit befand sich im Spätmittelalter zwischen Einstimmigkeit und Mensuralmusik.[12] Sie entwickelte sich aber in regionaler und stilistischer Abschattierung weiter, beeinflusste neuere Entwicklungen wie den protestantischen Kantionalsatz und den italienischen falsobordone und blieb mancherorts bis ins 20. Jahrhundert im Gebrauch.

[9] Zu Terminologie und Entwicklung des Discantus-Begriffs vgl. Fuller 1978Sachs 1974 und 1984Hascher-Burger 2002, S. 188-202.

[10] Strohm 1989.

[11] Göllner 19611989Treitler 1989. Zur Diskussion dieser Auffassung vgl. » Kap. Komposition, Schriftlichkeit und Mündlichkeit.

[12] Dass instrumentale Mehrstimmigkeit eine ähnliche Position einnahm, sich jedoch anders weiterentwickelte, betont vor allem Göllner 1961, S. 144-146.