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Tropen und andere Randerscheinungen im ordo von St. Stephan

Reinhard Strohm

Der kompakte Band » A-Wn Cod. 4712 der Österreichischen Nationalbibliothek ist bezeichnet als „ordo sive breviarium“ (Ordnung bzw. Abkürzung). Darin wird der gottesdienstliche Ritus von St. Stephan, wie in einem solchen Liber ordinarius üblich, stark verkürzt beschrieben: mit Incipits und Rubriken statt der vollen Texte.[61] Auch sind nur die Gottesdienste des Kapitels angeführt, nicht diejenigen der Pfarrei und der vielen Altäre und Kapellen, die privat bestiftet waren. Der um 1400 geschriebene Haupttext (fol. 1–107) vermittelt im Wesentlichen die Passauer Diözesanliturgie, die in den Pfarreien Wiens galt. Zahlreiche Randanmerkungen der folgenden Jahrzehnte erläutern die Weiterentwicklungen des Ritus und dessen spezifische Ausübung in Wien. Z. B. erklärt eine Randnotiz (fol. 9v) beim Fest des hl. Stephan (26. Dezember), es werde (am Vorabend) keine Komplet gesungen, sondern stattdessen „dem Klerus und dem Volke gepredigt“ (fit sermo ad clerum et ad populum). Zum Introitus der Messe am Stephanstag selbst sieht der Haupttext ungenannte Tropen vor, darunter vielleicht den im Seckauer Cantionarius von 1345 (» A-Gu Cod. 756) notierten Introitustropus De Stephani roseo sanguine martirii vernant primicie (Aus Stephans rosenrotem Blut blühen die ersten Erntegaben des Martyriums).[62] Auch zum Fest der Unschuldigen Kinder (28. Dezember), zu Epiphanias (6. Januar) und zu anderen Festen des Jahres gibt es Messtropen; keiner davon ist im gedruckten » Graduale Pataviense von 1511 mehr überliefert.

Die Orgel ist in der Dienstordnung von A-Wn Cod. 4712 oft mitbedacht, besonders bei den Marienmessen (z. B. fol. 28v). Vielleicht war der Hauptstandort der kleinen Orgel am Liebfrauenaltar im (nördlichen) Marienchor.

Ein längerer Nachtrag auf fol. 35v informiert, dass entsprechend einer Verordnung des Passauer Bischofs Georg von Hachloch (Hohenlohe) vom 12. November 1404 einmal wöchentlich das ganze Stundengebet (Officium diurnum et nocturnum) für den Passauer Diözesanpatron St. Stephan feierlich mit neun Lesungen zelebriert werden soll. Eine zweite Hand fügt hinzu, diese Verordnung sei am 1. Juni 1411 im Wiener Stephanskapitel feierlich von der Kanzel verlesen worden.[63]

Speziell zu Wiener Gebräuchen erklärt eine Anmerkung (fol. 50r), dass in der Oktave des Osterfestes der Dedikationsritus von St. Stephan gesungen werde, womit der Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti) gleichsam zum zweiten Kirchweihfest wurde. Auch wurde das „Heiltum“, die Sammlung aller der Kirche gehörigen Reliquien, an diesem Sonntag dem Volke gezeigt, seit 1483 auf dem eigens dafür erbauten „Heiltumsstuhl“ vor der Kirche (» Abb. Wiener Heiltumstuhl; » F. Lokalheilige). Am Samstag davor wurde das Kirchweihfest der Tirnakapelle (Nachtrag auf fol. 50r) begangen.

Dass auch in Wien in der Osterfeier (» A. Osterfeier) volkssprachliche Gesänge vorkamen, belegen Erwähnungen von „Volksrufen“ im Haupttext (vgl. »Abb. Vociferationes populi an St. Stephan). Weitere Rufe des Volkes waren für die Litanei der Bittprozession vorgesehen (vgl. Kap. Prozessionen von St. Stephan).

 

 

Hochinteressant ist eine isolierte Erwähnung mehrstimmigen Gesanges im Haupttext (fol. 54r), die auch in anderen Exemplaren des Passauer Liber ordinarius zu finden ist und somit in der ganzen Diözese galt (freundliche Mitteilung von Robert Klugseder). In der Messe des 5. Sonntags nach Ostern (Vocem iucunditatis) wurde die Sequenz Laudes salvatori gesungen, „die angenehm mit Discantus beendet werden soll“ (que iocunde cum discantu finiatur). Es handelt sich hier um Notkers Prosa Laudes salvatori zum Ostersonntag, die erst das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert ganz durch Victime paschali laudes ersetzen konnte. Isaac komponierte im 2. Band seines Choralis Constantinus (» G. Henricus Isaac) eine Ostersequenz, in der Laudes salvatori (beginnend mit dem 2. Vers, Et devotis melodiis), Victime paschali und sogar die Antiphon Regina celi letare miteinander kombiniert sind. Man muss fragen, warum nur an einem vergleichsweise unwichtigen Sonntag[64] so eine musikalische Ausschmückung vorgeschrieben wurde, wenn sie doch zu anderen Festen, wie z. B. Ostern, mindestens ebenso gut gepasst hätte. Laudes salvatori wurde auch am Ostersonntag gesungen (fol. 48v). Machte der ordo hier etwas verbindlich, das an anderen Tagen ad libitum geschehen konnte? Es sei die Lösung vorgeschlagen, dass dieser besondere mehrstimmige Beitrag, der wohl von den Priestern ausgeführt wurde (Kantor, Schulmeister oder Schüler sind nicht erwähnt), auf eine vielleicht schon alte Passauer Stiftung zurückging und als besonders ehrwürdig erachtet wurde. Die hier gemeinte Art des Discantus könnte dann jener Mehrstimmigkeit entsprochen haben, von der es in der Region zahlreiche Zeugnisse aus Klöstern gibt (» A. Klösterliche Mehrstimmigkeit).[65]

[61] Detailangaben zu » A-Wn Cod. 4712 in Klugseder 2013; vgl. auch » E. SL Fronleichnamsprozession. Den Messritus des Stephanskapitels repräsentiert das heute noch dem Erzbischöflichen Kapitel gehörende „Turs-Missale“ (um 1430 unter Probst Wilhelm von Turs angefertigt), das vor allem kunsthistorisch interessant ist.

[62] A-Gu Cod. 756, fol. 185r; vgl. » A. Weihnachtsgesänge.

[63] Ersterer ist der früheste datierte Nachtrag, so dass der Codex vor 1404 entstanden sein muss.

[64] Der Sonntag Vocem iucunditatis war allerdings St. Koloman gewidmet (» A-Wn Cod. 4712, fol. 54r).

[65] Für mehrstimmige Schlüsse einstimmig vorgetragener Choräle, wie es hier intendiert scheint, gibt es für das 14. Jahrhundert Belege in Frankreich und Italien.