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Zwei polyphone Stiftungen

Reinhard Strohm

Bisher sind nur zwei Stiftungen an St. Stephan aus dieser Epoche bekannt, die mit unmissverständlichen Worten mensurale, d.h. kunstvoll mehrstimmige, Musik verlangen: von 1506 und von 1521. Da seit spätestens 1460 solche Musik nicht nur gepflegt wurde, sondern sogar vorgeschrieben war, scheint hier Erklärungsbedarf zu bestehen. Wahrscheinlich wurde auch in gestifteten Gottesdiensten üblicherweise mehrstimmig gesungen – nicht nur an Hochfesten im Hochchor –, aber die beurkundeten Verträge legten sich selten darauf fest. Die hier zu erläuternden Ausnahmen dürften auf besondere musikalische Interessen und Ambitionen ihrer Stifter zurückzuführen sein.

Dr. Leonhart Wulfing, seit 1479 Kaplan an St. Stephan und später Domherr und Dechant, stiftete 1506 testamentarisch einen Jahrtag am St. Agnestag auf dem St.-Agnesaltar, mit drei Seelenmessen und einem „loblichen gesungen ambt von sannd agnesen mit dem cantor in figurativis und organis“.[108] Die Schutzheilige war Patronin des berühmten Wiener „Himmelpfortklosters“ (auch St. Agnes-Kloster genannt) der Prämonstratenserinnen in der Himmelpfortgasse nahe dem Dom, mit denen vermutlich Beziehungen bestanden.

Georg Slatkonia (1456–1522), magister capelle Maximilians I. und seit 1513 Bischof von Wien, errichtete 1521 umfangreiche Gedächtnisstiftungen für sich selbst, zu denen bereits seit 1518 finanzielle Vorbereitungen mit Unterstützung des Kaisers gemacht worden waren. Slatkonia stiftete erstens 500 tl. für eine wöchentliche Messe, ein ewiges Licht und einen Jahrtag an seinem im Marienchor unter dem Altar von St. Nicephorus, Primus und Felicianus zu errichtenden Grab (Urkunde vom 18. Juli 1521, A-Wda, Urkunde 15210718), und zweitens 500 rheinische Gulden für eine Messe von Mariae Himmelfahrt. Diese sollte nach dem Requiem des Jahrtags und einer Prozession vom Kantor mit seinen Gesellen und von einem Chorherrn mit der Orgel „in mensuris“ gesungen werden (Urkunde vom 19. Juli 1521: A-Wda, Urkunde 15210719). Dazu kamen zahlreiche Vorschriften für Almosenverteilungen und die Bezahlungen der Priester und Musiker. Offensichtlich wurde mit einer bereits reich entwickelten und verzweigten Musikpflege gerechnet, die um des Berühmtheitsgrades des Stifters willen übertroffen werden sollte.

[108] A-Wda, Urkunde 15060119; siehe http://monasterium.net/mom/AT-DAW/Urkunden/15060119/charter [02.06.2016].