Schlaglicht: Die Fronleichnamsprozession von St. Stephan in Wien
Der vorliegende Codex folgt dem Passauer Ritus, da Wien bis 1469 kein Bischofsitz war und als Bestandteil der Diözese Passau keine grundsätzlich eigene liturgische Tradition entwickelt hatte. Wahrscheinlich war ein Mitglied des Chores, vielleicht der Magister chori selbst, der ursprüngliche Benützer: Die Abmessungen der Handschrift von 235x160mm waren gut geeignet für individuellen Gebrauch. Insgesamt enthält der Codex 109 foliierte Blätter und ein unnummeriertes Nachsatzblatt. Die Niederschrift wurde um 1400 angelegt und anschließend erweitert. Verschiedene Randnachträge beziehen sich rückblickend auf die Jahre der Einführung neuer Zeremonien, unter den Daten 1404 (fol. 35v), 1405 (fol. 67v), 1411 (fol. 35v), 1414 (fol. 95r), 1416 (fol. 68r) und 1417( fol. 52v). Die Handschrift enthält zahlreiche Gebrauchsspuren sowie repertoriale Einträge mit Musiknotation auf den letzten Seiten (fol. 108r–109v und Nachsatzblatt).
Die unmittelbare Verbindung zur Kollegiatskirche von St. Stephan ergibt sich aus mehreren Einträgen. Ein Nachtrag am oberen Rand von fol. 50v lautet „Nota quod hic Wienne ad sanctum Stephanum in octava Paschae semper cantatur de dedicacione“ (d. h., in der Oktave von Ostern wird an St. Stephan der Dedikationsritus von St. Stephan gesungen). Entscheidend für die Wiener Entstehung des Codex sind die Prozessionsbeschreibungen im ursprünglichen Haupttext, die die Prozessionswege zum Kloster St. Maria (d. h. dem Schottenkloster) und zur Pfarrkirche St. Michael festlegen (z. B. in der Beschreibung der großen Palmsonntagsprozession, fol. 38v–39r). Nachträge bestätigen dies, so die hier veröffentlichte Prozessionsordnung für Fronleichnam und eine kurze Notiz zum Ordo missale, die auf fol. 109r nachgetragen sind (ca. 1450).
Der auf 52 Zeilen notierte Ordo processionis in die Corporis Christi gibt die Zusammensetzung der Prozessionsteilnehmer und ihre genaue Position innerhalb des Zuges wieder. [1] (» Abb. Ordo processionis in die Corporis Christi)
Somit bildeten die weltlichen Korporationen die Spitze des Zuges: Zünfte mit ihren Kerzen („czeche cum candelis suis“), danach die jungen Schüler mit ihren Bannern („scolarii und juvenes scolares“), gefolgt von der universitären Körperschaft bestehend aus den Magistern – „nach der gewohnten Reihenfolge“ – und den Studenten („studentes magistri“). Es folgten unmittelbar darauf die einzelnen konventualen Orden der Stadt Wien, deren Reihenfolge ebenfalls vorgeschrieben war: An erster Stelle die Karmeliter, danach die Augustiner, die Minoriten, die Dominikaner, die vom Heilig-Geist-Spital, der deutsche Orden, die Johanniter und die Schotten. Hinter diesen schritten nun die Kapläne mit und ohne Pfründe sowie die Häupter folgender Pfarren jeweils unter dem Baldachin („sub celo“): St. Hieronimus, St. Philipp, St. Rudpert, St. Peter und St. Jakob. Die Unterteilungen der einzelnen Gruppen sind vom Schreiber des Ordo processionis durch rote Linien markiert: Geistliche Orden, Kapläne der einzelnen Altäre der Stadt, Reliquien von St. Stephan und nicht zuletzt die Heiligtümer der Rathauskapelle von Ottenhaym, von Maria am Gestade und von St. Michael. Abschließend folgten diverse geistliche Repräsentanten und Reliquien aus der Stephanskirche: nämlich die Kapläne aus der Friedhofskapelle bei St. Stephan und des St. Dorothea-Altars, sowie die Repräsentanten niederer kirchlicher Ämter wie Grationare, Vikare und Octenare. Die Kapläne des Domkapitels und die Kanoniker von St. Stephan samt ihrem Dekan bildeten gemeinsam mit den Prälaten und den Bischöfen – die Ranghöchsten in der kirchlichen Hierarchie – den letzten Abschnitt und zugleich den Höhepunkt der Prozession.[2] Der Begriff Bischof (episcopi) erscheint im Plural: Zwar waren bis 1469 weder Wien noch Wiener Neustadt reguläre Bischofsitze, jedoch nahmen immer wieder auswärtige Bischöfe und Weihbischöfe (z. B. von Gurk, Salzburg, Passau) an der Wiener Fronleichnamsprozession teil.
Neben den im Ordo processionis erwähnten Institutionen und Personen bildeten die materiellen Objekte wie die Monstranzen und Reliquienschätze einen substantiellen Bestandteil der Prozession. Das Fronleichnamsfest zelebriert das Ereignis der Transsubstantiation, die durch die vom Priester getragene Monstranz symbolisiert erscheint. Daher bildeten den Mittelpunkt der Prozession die entsprechende Monstranz, das Reliquiar, das Bildnis oder Vortragekreuz der Dreifaltigkeit unter dem Baldachin, die im Bezug zum Gottleichnamsaltar bzw. zur Eucharistie zentrale Symbole darstellten. Auch andere nicht namentlich genannte Reliquien wurden während der Prozession getragen; so heißt es zu Beginn des Ordo processionis, dass die Magister rechts der Reliquien zu stehen haben. Eine explizite Erwähnung findet gegen Ende der Aufzählung die Reliquie des Hemdes des hl. Georg, eines zentralen Heiligen der devotionalen Kultur der Habsburger.
Belege zur Wiener Fronleichnamsprozession im 15. Jahrhundert, wie sie Cod. 4712 überliefert, sind in dieser Vollständigkeit durch keine weitere Quelle dieser Zeit bekannt. Die Entdeckung des Ordo processionis von St. Stephan stellt der Forschung bislang ungeahnte Informationen zu Verfügung. Die gesamte Topographie der Stadt, die geistlichen und weltlichen Einrichtungen, sowie ihre Körperschaften sind aus jener Darstellung plastisch erkennbar. Bei keiner anderen Zelebration fügten sich die verschiedenen Körperschaften und Stände der Stadt zu einer vergleichbaren Einheit zusammen. Die damalige Gesellschaftsordnung spiegelt sich in den an der Prozession beteiligten Gemeinschaften von Gelehrten, Geistlichen und Bürgern wieder. Ihr gemeinsamer Repräsentationsraum nimmt anhand der Prozessionsbeschreibung deutliche Konturen an. Über die musikalische Ausstattung der Prozession ist noch wenig bekannt, außer die Informationen, die ein Fragment aus dem Erzbischöflichen Diözesanarchiv bietet.[3]
[1] Siehe zur Fronleichnamsprozession in Wien: Zapke 2012; Zapke 2014; Zapke 2015. Vgl. auch » E. Wiener Gotsleichbruderschaft.
[2] Der Baldachin des Eslarius nimmt Bezug auf die Wiener Ratsbürger Hermann und Hans von Eslarn: siehe Zapke 2015 und Perger 1988.
[3] Vgl. Wright 2016; Wright 2009. Vgl. jedoch abweichend » E. Musik im Gottesdienst (Anm. d. Red.).
Empfohlene Zitierweise:
Susana Zapke: „Die Fronleichnamsprozession von St. Stephan“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-die-fronleichnamsprozession-von-st-stephan-wien> (2016).