Sie sind hier

Zum Begriff der nichtmensuralen Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

F. Alberto Gallo, der in einem wegweisenden Beitrag die Bezeichnung “cantus planus binatim” für die gesamte Tradition der einfachen Mehrstimmigkeit Italiens einführen wollte, hat Letztere auch als “non-mensural polyphony” charakterisiert, und Rudolf Flotzinger verwendet die Bezeichnung „non-mensural“ im Titel seiner Einführung in die österreichischen Quellen dieser Tradition.[7] “Nichtmensural” ist in der Tat die beste Beschreibung dieser Musikpraxis, die zumindest in Zentraleuropa auch außerhalb des kirchlichen Ritus geübt wurde, z.B. in volkssprachlichen geistlichen Liedern, lateinischen Cantionen und weltlichen Autorliedern (etwa des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein). Die weltliche Praxis beschreibt Marc Lewon in » B. Non-mensural polyphony in secular repertories; hier soll die kirchliche, vorwiegend klösterliche, Tradition der Region Österreich und angrenzender Gebiete behandelt werden.

Mit „nichtmensural“ ist eine Aufführungsweise gemeint, die ohne Kenntnis der Regeln der Mensuralmusik des 13. bis 16. Jahrhunderts funktionierte, die das genaue arithmetische Verhältnis verschiedener Notenwerte in der Notation festlegten.[8] Offenbar wurde die Beherrschung dieses Regelsystems noch bis Ende des Mittelalters als besondere Geschicklichkeit angesehen: Sie wurde in eigenen Traktaten gelehrt und in Kirchen und Klöstern, wenn überhaupt, nur von Spezialisten gepflegt. Die entsprechende Musik galt als “cantus mensurabilis” (mensurierbarer Gesang) oder “cantus figuratus” (figurierter Gesang), weil die Notendauern durch besondere Zeichen (figurae) wie rhombische Form, Fähnchen, Kolorierung, Divisionspunkte, Mensurzeichen und notenwertbestimmende Ligaturen festgelegt wurden. Die nichtmensurale mehrstimmige Praxis dagegen erforderte nur die traditionellen Notationsmittel der Choralschrift: Einzelzeichen und Ligaturen ohne Notenwertbedeutung. Die Stimmen wurden durch den gleichzeitigen Vortrag des Textes und durch mündlich vereinbarte Konventionen koordiniert, wie es seit jeher auch im einstimmigen Choral praktiziert worden war. So bildet die nichtmensurale Mehrstimmigkeit des Spätmittelalters, zu der die klösterliche Mehrstimmigkeit als weitaus wichtigste Untergruppierung gehört, tatsächlich einen eigenen Bereich gegenüber der mensuralen Polyphonie. Sie unterscheidet sich von ihr in dreierlei Weise: kulturell, musiktechnisch und historisch.

[7] Gallo 1989, S. 28-30, Flotzinger 1989.

[8] Zunächst wurde allein von Dreizeitigkeit der Werte ausgegangen. Regionale Varianten dieses auf Franco von Köln (Paris, 13. Jahrhundert) zurückführbaren Mensuralsystems erklärt Alexander Rausch in » C. Kap. Mensuraltraktate – Abweichungen vom klassischen System.