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Ablehnung der Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

Seit Jahrhunderten war der christliche Kirchengesang, wie die Kirche als Ganzes, Gegenstand von Reformbestrebungen, die vor allem vom Klosterleben die Rückkehr zu Demut, Enthaltsamkeit und Einfachheit forderten. Kirchliche Mehrstimmigkeit, die viele als Verweltlichung betrachteten, fand wohl in demselben Maße neue Gegner, in dem sie weithin verbreitet wurde.[13] Die ablehnenden Äußerungen aus kirchlichen Kreisen selbst, z.B. in Traktaten, Synodalbeschlüssen und pastoralen Empfehlungen, waren jedoch nicht einheitlich gegen jede Art von Mehrstimmigkeit gerichtet, sondern bezeugen überwiegend die Unterscheidung zwischen mensuraler und nichtmensuraler Praxis.

Das oft genannte Dekret Docta Sanctorum Patrum von Papst Johannes XXII. (1324/25) tadelt Verzerrungen des Choralgesangs, die durch mensural fixierte Rhythmen zustandekommen, nämlich Hoqueti, Discantus und Motetten:[14]

“Doch einige Anhänger der neuen Schule, die um Zeitmessung bemüht sind, führen neue Notenzeichen ein, wollen ihre eigenen Gesänge singen anstatt die alten und zertrümmern die Noten des Kirchenchorals in Semibreven und Minimen. Sie zertrennen die Choralmelodien durch Hoqueti, balsamieren sie mit Discantus, unterdrücken sie oft mit Triplumstimmen und volkssprachlichen Motetten.”[15]

Doch sollte eine gewisse Art der Mehrstimmigkeit erlaubt sein:

“Allerdings wünschen wir nicht zu verbieten, dass manchmal, vor allem an Festtagen oder in missae solemnes und den genannten Stundengebeten, bestimmte Konsonanzen, die der Melodie entsprechen, wie etwa Oktaven, Quinten, Quarten und ähnliche, zusätzlich zum Kirchenchoral erklingen können – jedoch so, dass die Einheit der Choralmelodie unbeschadet bleibt.”[16]

Papst Johannes XXII. erlaubt also nichtmensurale Mehrstimmigkeit in Festmessen und besonderen Stundengebeten, lehnt mensurale jedoch ab, vor allem weil sie die melodische Einheit der Choralmelodien (und damit auch ihrer Texte) “zertrümmere”. Dies sei besonders bei Hoqueti, Motetten und Discantus der Fall. „Discantus“ bedeutet hier die rhythmisch-kontrapunktische Musik etwa der Discantuspartien der Ars antiqua*, nicht Mehrstimmigkeit schlechthin.

Wirkungen und Umformulierungen dieses Dekrets sind vor allem in monastischen Quellen der Folgezeit öfters festzustellen, nicht zuletzt in den Visitationsberichten der Melker Reform (» A. Melker Reform).[17] Ähnliche Ansichten äußerte man in Kreisen der niederländischen devotio moderna und den Augustinerklöstern der Windesheimer Kongregation: Unter anderen wendeten sich John Cele, der Rektor der Stadtschule von Zwolle, der Kartäuser Heinrich Eger von Kalkar und der Augustiner Thomas a Kempis gegen cantus fractibilis oder fractio vocis (“gebrochene Noten”), also gegen Mensuralmusik, während Mehrstimmigkeit in einfacher Form und zu besonderen Gelegenheiten in diesen Kreisen eher gebräuchlich war.[18]

[13] Gegen Ende des 15. Jahrhunderts führte die religiöse und soziale Kritik an kunstvoller Kirchenmusik zu einer europäischen Krise: vgl. Wegman 2005.

[14] Text und Interpretation nach Hucke 1984Körndle 2010, S. 151 und 164; Übersetzung R. Strohm. Mit „Motetten“ sind hier nicht die Stücke als Ganzes, sondern die Motetus-Stimmen gemeint.

[15] Sed nonnulli novella Scholae discipuli, dum temporibus mensurandis invigilant, novis notis intendunt, fingere suas quam antiquas cantare malunt, in semibreves et minimas ecclesiastici cantus notulas percutiunt. Nam melodias hoquetis intersecant, discantibus lubricant, triplis et motetis vulgaribus nonnumquam inculcant.

[16] Per hoc autem non intendimus prohibere, quin interdum, diebus Festis precipue, sive solemnibus in Missis et praefatis divinis officiis aliquae consonantiae, quae melodiam sapiunt, puta octavae, quintae, quartae et huiusmodi supra cantum ecclesiasticum simplicem proferantur, sic tamen ut ipsius cantus integritas illibata permaneat.

[17] Körndle 2010. Zu einer vermutlichen Beachtung des Dekrets in den polyphonen Musikhandschriften » F-APT 16b und » F-APT 9 vgl. Strohm 1993, S. 34-35. Angerer 1974, zur Melker Reform, geht auf das päpstliche Dekret nicht ein.

[18] Vgl. Ewerhart 1955 und Hascher-Burger 2002, S. 186-205, Hascher-Burger 2005.