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Mehrstimmige Liedvertonung

Reinhard Strohm

„Liedvertonung“ ist an sich ein widersprüchlicher Ausdruck, da man etwas, das bereits als Lied – d. h. mit Melodie – existiert, nicht mehr „vertonen“ muss. Vielmehr bedeutete die „Vertonung“, d. h. die Einbettung einer Melodie in einen mehrstimmigen Satz, oft nur eine Aufführungspraxis unter anderen, wie bei zahlreichen Sequenzen, Hymnen, Tropen und Messsätzen, die schon seit dem 10. Jahrhundert gelegentlich mehrstimmig vorgetragen wurden – z. T. in rhythmisch einfachen, extemporierbaren Aufführungsweisen. Die geistlichen Lieder des Spätmittelalters folgten diesen Vortragsweisen auf dem Fuß; die zweistimmigen Fassungen von Flos de spina procreatur in » A-Iu Cod. 457 (» A. Weihnachtsgesänge) oder von Triumphat dei filius (» A. Osterfeier) sind bloße Formen der Aufführung und kaum als „Vertonungen“ einstimmiger Versionen zu bezeichnen.

Dagegen waren die aus der Ars antiqua stammenden Kompositionsprinzipien des Discantus und der Motette dem Lied von Haus aus fremd. Dass die zur Melodiegrundlage hinzugefügten Gegenstimmen ein komponiertes rhythmisches Gepräge haben und deren Vortrag gleichsam zerstückeln, wurde nicht nur von Papst Johannes XXII. 1324 offiziell in einer Bulle verdammt, sondern auch in anderen Vorschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, u.a. in der Melker Reform (» A. Kap. Ablehnung der Mehrstimmigkeit). Im Gegensatz zu „simultanen“ Techniken, bei denen eine Lied- oder Choralmelodie in homophonem Rhythmus von anderen Stimmen begleitet wird, verlangen Motette und Discantus eine Abstufung der Stimmfunktionen, entweder nach dem cantus-firmus-Verfahren oder in der Art des europäischen Diskantliedes mit führender Melodiestimme und Tenor. Diese verschiedenen Macharten waren spätestens seit etwa 1400 in der Region Österreich nebeneinander vorhanden und fanden zunehmend Eingang in die Liedkomposition, wobei sich die Techniken oft auch vermischten: Geistliche Lieder gab es in allen Formen, von der Einstimmigkeit bis zu Renaissancemotette und cantus-firmus-Messe.

So hat die Ausbreitung mensuraler Polyphonie die Pflege geistlicher Lieder im österreichischen Raum sogar gefördert. Z. B. sind mehr als ein Dutzend polyphone Bearbeitungen der Leise Christ ist erstanden überliefert. Nicht, dass das Lied wesentlich öfter erklungen wäre als zuvor. Doch verband es sich nun mit der Praxis kunstvoller Musik. Manche neuen Vertonungen stammen von ausländischen Komponisten (» B. SL Christ ist erstanden).[74]

Mehrstimmige geistliche Liedsätze entstanden wohl an vielen Orten. Ein Einzelblatt aus dem Stift St. Florian (» A-SF Cod. XI 128, fol. 1r–v) enthält Federproben, kirchliche Regeln und das Fragment einer Motette, deren Triplum mit „Gracia“ beginnt, außerdem das dreistimmige Weihnachtslied Agmina fidelium, eine dreistimmige Fassung der Cantio In natali domini und einen textlosen Discantus-Satz, wahrscheinlich einer weiteren Cantio.[75] Hier dürfte ein gebildeter Succentor am Werk gewesen sein, der an Weihnachten mit dem Schülerchor zu singen hatte, jedoch auch an gelehrteren motettischen Formen interessiert war. Die Mittelstimme von Agmina fidelium nennt er „Medius“ (nicht „Contratenor“), eine bis um 1450 vorkommende regionaltypische Bezeichnung.

Das dreistimmige In natali domini paraphrasiert die bekannte Melodie, rhythmisiert im „6/8“-Metrum, in der Oberstimme, so wie es in geistlichen Sätzen der früheren Trienter Codices üblich ist. Dort findet sich der Satz jedoch nicht – wie überhaupt geistliche Liedsätze dieser Machart in den Quellen der Region fast immer nur als Unikate auftauchen. Wahrscheinlich konnte man für die festtäglichen Aufgaben der Chorschule oder Kantorei viele Vortragsstücke „ad hoc“ anfertigen und gab sie nicht weiter. Drei Weihnachtscantionen in den Handschriften » I-TRbc 88 und » I-TRbc 89 (» Hörbsp. ♫ Novus annus hodie, » Hörbsp. ♫ Resonet in laudibus (Trient 88) und » Hörbsp. ♫ Dies est letitie) stehen für Dutzende solcher Gesänge, mit denen die Kantoren das geistliche Lied auf der Stilebene mensuraler Polyphonie weiterpflegten.

Andererseits konnten Kantoren wohl aus Hofkapellen und Universitätskreisen ausländische Vertonungen beschaffen, die professioneller schienen oder waren und deren Texte, wenn sie nicht dem Verwendungszweck entsprachen, kontrafaziert oder adaptiert werden konnten. Eine großartige Komposition des Antwerpener Musikers Johannes Puillois (ca. 1415–1478) ist die vierstimmige Motette Flos de spina procreatur (» Hörbsp. ♫ Flos de spina, Puillois). Sie erreichte die österreichische Region nach 1447, als der Komponist bereits in der päpstlichen Kapelle angestellt war. Der mit dem Hof Friedrichs III. (» D. Albrecht II. und Friedrich III.) verbundene Niederländer Johannes Tourout oder Touront steuerte verschiedene „Andachtsmotetten“ bei, die eigentlich Liedvertonungen sind, so z. B. O florens rosa, das auf einen weit verbreiteten Gebetstext komponiert oder adaptiert ist (» Hörbsp. ♫ O florens rosa). Dass die regionale Liedtradition hier mit internationalen Repertoires der Kunstmusik zusammenmündet, muss auch bedeuten, dass sich der Erwartungshorizont der Musiker und Hörer der Region gewaltig verschoben hatte.

 

[74] Vgl. Haggh 2012Strohm 2014, 20–22 und 27–29.

[75] Ich danke Robert Klugseder für die freundliche Überlassung einer Fotokopie des Fragments.

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