Akklamation
Ein wichtiges Beispiel gesungener Praxis ist der Vorgang der Akklamation (Anrufung, Begrüßung), an dem sich verschiedene Personen beteiligen können. Diese Art von Lied wird von einem Kollektiv vorgetragen und ist in der „wir“-Form verfasst – auch wenn die Ausführenden nicht die Gemeindemitglieder selbst, sondern z. B. die Chorschüler waren. Die Antiphon Cum rex glorie (» A. Osterfeier, Kap. Die Osterprozession; » Hörbsp. ♫ Cum rex glorie) erzählt in ihrem ersten Teil von dem Augenblick, in dem der auferstandene Christus in die Hölle gelangt, um die dort schmachtenden frommen Seelen zu befreien und die Teufel zu überwinden. Doch ihr zweiter Textteil ist eine Akklamation: Er zitiert in wörtlicher Rede die Rufe der in der Hölle wartenden Seelen, die den zu ihrer Erlösung erscheinenden Heiland begrüßen.
Cum rex glorie
Cum rex glorie Christus infernum debellaturus intraret
et chorus angelicus ante faciem ejus portas principum tolli praeciperet,
sanctorum populus qui tenebatur in morte captivus voce lacrimabili clamaverat:
Advenisti desiderabilis, quem expectabamus in tenebris,
ut educeres hac nocte vinculatos de claustris:
Te nostra vocabant suspiria, te larga requirebant lamenta,
tu factus es spes desperatis, magna consolatio in tormentis.
Alleluia.
Als Christus, der König der Ehre, die Unterwelt betrat, um sie zu besiegen,
und der Chor der Engel vor seinem Antlitz die Tore der Höllenfürsten zu heben gebot,
da rief das Volk der Heiligen, das im Tode gefangen gehalten wurde, mit zu Tränen rührender Stimme:
Gekommen bist du, Ersehnter, auf den wir in der Finsternis warteten,
damit du uns Gefesselte in dieser Nacht aus dem Kerker herausführst:
Dich riefen immer unsere Seufzer, dich erflehten unsere langen Klagen,
du wurdest zur Hoffnung den Verzweifelten, ein großer Trost in den Qualen.
Halleluja.
Die dramatische Szene von Christi Höllenfahrt war in vielen Formen beliebt, nicht nur als halbdramatischer Prozessionsgesang. Bildliche Darstellungen (wie Martin Schongauers Altarbild: » Abb. Christi Höllenfahrt) waren zahlreich; sogar ein Traktat zur Erklärung des Textes wurde verfasst.[19] So ist es verständlich, dass die Anrufung Advenisti noch weiter ausgestaltet wurde, um gleichsam auch die Schar der Gläubigen zu Wort kommen zu lassen: Es wurde der Tropus Triumphat Dei filius angefügt, der als eigene österliche Cantio weiterexistierte und in mehreren Quellen in striktem Rhythmus und mehrstimmig erscheint (» A. Osterfeier, » Hörbsp. ♫ Tropus Triumphat). In einigen Versionen lautet der Text Alle Dei filius – so als ob der Liedtext in das Wort „Alle-luia“ hineingefüllt worden wäre (» Notenbsp. Alle Dei filius Übertragung). Den Status des Alle Dei filius als eigenes Prozessionslied bekräftigen zeitgenössische mensurale Vertonungen, wie » Hörbsp. ♫ Alle Dei filius (Trient 91) (um 1470; aus » I-TRbc 91, fol. 145v–146r). Dieses Stück, das die Melodie des Tropus Triumphat als cantus firmus mitführt, ist sicher nicht in der Prozession gesungen worden und auch nicht unbedingt an Ostern. Vielmehr ließ man sich hier ein geistliches Lied in reicher harmonischer Ausstattung privat vorführen, vielleicht zur Andacht, vielleicht auch nur als musikalische Unterhaltung.
Auch die Akklamation Advenisti selbst hat eine eigene „Entfremdungsgeschichte“: Sie wurde öfters zu weltlichen Zeremonien, wie dem festlichen Einzug eines Herrschers vorgetragen (» D. Advenisti: Fürsten und Diplomaten auf Reisen und » D. Krieg und Zeremonie). Dabei folgte man der Tradition der Laudes regiae (Christus vincit): Akklamationen, die seit karolingischer Zeit bei Auftritten von Kaiser oder König gesungen wurden. Der Antiphontext mit seiner Beziehung auf Christus gab solcher Herrscherdarstellung einen übersteigerten und eschatologischen (jenseitigen) Charakter. In den Trienter Codices gibt es Huldigungsmotetten auf den dortigen Bischof Georg Hack mit dem Advenisti-Text (z. B. » I-TRbc 88, fol. 336v–337r; » Hörbsp. ♫ Advenisti/Venisti nostras).[20]
[19] Expositio antiphonae „Advenisti desiderabilis“ in der Handschrift A-MB Man. cart. 205 (Tegernsee um 1520), fol. 72r–v.
[20] Zu letzteren vgl. Flotzinger 2007, 219–225.
[1] Vgl. » A. Weihnachtsgesänge; Harrison 1965. Sammlungen aus Cividale (Kirchenprovinz Aquileia) und Aosta (vgl. Harrison 1965) enthalten manche Konkordanzen mit Quellen aus der Region Österreich.
[2] Sicher ist im Beispiel bei Janota 1968, 74, das Singen des deutschen Christ ist erstanden gemeint.
[3] Vgl. Rajecki 1975/1976, 20; Strohm 1993, 514.
[4] Vgl. zur Einführung Strohm 2015.
[5] Kouba, Jan: Art. “Hus, Jan”, in: Oxford Music Online, URL: http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/13599?q=… [05.12.2014]: “…it seems that he arranged the medieval melody ‘Jesu Kriste, štědrý kněže’ (‘Jesus Christ, thou bountiful prince’) in the Jistebnice Hussite hymnbook (CZ-Pnm Ms. II C 7), and he may also have arranged or translated the texts of several other hymns, but the best-known one attributed to him, ‘Jesus Christus, nostra salus’, is clearly not by him.”.
[6] Bergsagel 1990, 2–4, und Bergsagel/Nielsen 1979 gehen davon aus, dass die zweistimmige Fassung der Handschrift DK-Kar Ms. AM 76, 8º aus Böhmen stammt. Faks. und Übertragung auch bei Kroon, Sigurd u. a. (Hrsg.): A Danish Teacher’s Manual of the Mid-Fifteenth Century, Lund 1993, 36–37. Walther 1969, 498 (Nr. 9846) kennt eine Danziger Quelle des 15. Jahrhunderts.
[7] Vgl. Mužík 1965, 28–29, mit einer Transkription der Melodie nach » H-Bn Ms. lat.243. Weitere Informationen zu tschechischen und polnischen Liedern bei Birnbaum 1974.
[8] Vgl. Greene 1977; Edition mit Melodien in Stevens 1970.
[9] Zur devotio moderna vgl. Hascher-Burger 2002; Quellen zur lateinischen und italienischen Lauda bei Cattin 1977, Luisi 1983 und Diederichs 1986.
[10] Vgl. die Situation in Handschriften aus Seckau und Moosburg. (» A. Weihnachtsgesänge)
[11] Vgl. Rothe 1984, 366; Rothe 1988, 235–241 (Nr. 216A und 216B); Strohm 1993, 331–332.
[12] Rothe 1984, 184–194.
[13] Typische Beispiele solcher aufschlussreicher Quellen sind der Liber ordinarius aus Seckau von 1345 (A-Gu Cod. 756) und die deutschsprachige Liederhandschrift D-Mbs Cgm 715 (ca. 1450, aus Süddeutschland oder Salzburg; » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).
[15] Vgl. Janota 1968, 149–150. Janotas Studie ist auf deutsche Lieder konzentriert; leider fehlt eine ähnliche systematische Untersuchung lateinisch textierter Lieder.
[16] Ich danke Stefan Engels für dementsprechende Hinweise.
[17] Vgl. Wachinger 1979, 375–376.
[18] Vgl. Lütolf 2003–-2010, Bd. 5 (u. a. Geißlerlieder).
[19] Expositio antiphonae „Advenisti desiderabilis“ in der Handschrift A-MB Man. cart. 205 (Tegernsee um 1520), fol. 72r–v.
[20] Zu letzteren vgl. Flotzinger 2007, 219–225.
[21] So heißt es noch im 15. Jahrhundert im Liber Ordinarius von St. Stephan, Wien (A-Wn Cod. 4712; » E. Musik im Gottesdienst): „Plebs habeat vociferacionem suam“ [Randglosse: „populi vociferacio“] (fol. 39r), „populus habet suas vociferaciones aevia aevia [am Rand: „populus habeat vociferacionem“] (fol. 48r) und „layci habeant vociferaciones suas“ (fol. 54v). Wie die drei synonym gebrauchten Worte plebs/populus/layci beweisen, war nicht die Schola gemeint, sondern das allgemeine Kirchenvolk, das „sein Geschrei haben“ durfte.
[22] Dieses Lied soll schon Anfang des 13. Jahrhunderts existiert haben: Vgl. Janota 1968, 171 und 180–182; zu deutschen Liedern im Seckauer Liber ordinarius vgl. Behrendt 2009, 422–436.
[23] Vgl. Janota 1968, 110–114. Die Aufzeichnung in der Handschrift D-EFu Dep. Erf. CA. 4° 332 stammt aus Aachen und ist mensural polyphon (14. Jahrhundert); vgl. RISM B IV, 2, 68–69.
[24] Zu mehrstimmigen Fassungen vgl. » J. SL In Gottes namen faren wir.
[25] Weiteres dazu in Janota 1968, 206–210.
[26] Vgl. Hübner 1931, 251–252.
[27] Vgl. Janota 1968, 213, Anm. 1020. Vgl. Dreves 1886, 6–7, und Birnbaum 1974, auch zu den von der Prager Synode 1408 erlaubten volkssprachlichen Gesängen.
[28] Janota 1968, 44, 71. Zu weiteren Predigtliedern vgl. ebenda.
[29] Vgl. auch Janota 1968, 116, 128.
[30] Vgl. Huglo 1999, 15–16 (Nr. A 12/2).
[31] Ich danke Robert Klugseder für diese persönliche Mitteilung. Vgl. auch Klugseder 2012, 202, mit Edition der Rubrik.
[32] Janota 1968, 161–162.
[33] Diese Aufführungspraxis, die den volkssprachlichen Text gleichsam in den Ritus integriert, betraf nach norddeutschen Quellen z. B. die Weihnachtssequenz Grates nunc omnes reddamus mit ihrer auch musikalisch verwandten Übersetzung Ghelovet seystu Jesu Krist (Janota 1968, 117–118).
[34] Vgl. Huglo 1999, 30–31 (Nr. A-38). Die betreffenden Folios waren früher als fol. 7v–15v nummeriert.
[35] Editionen in Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 1 und 20.
[36] Janota 1968, 187–191.
[37] Strohm 1993, 337–338, mit Notenbeispiel.
[38] Janota 1968, 191–192, Anm. 894. Vgl. auch Lütolf 2003–2010, Nr. 217.
[39] Janota 1968, 152–153, mit Belegen u. a. aus dem Seckauer Liber ordinarius. Zur Wiener Palmsonntagsprozession siehe » E. Musik im Gottesdienst.
[40] Janota 1968, 220–237, umfasst alle Prozessionen und ihre Lieder, allerdings mit besonderem Gewicht auf den deutschsprachigen.
[41] Zur noch wenig erforschten Herkunft dieses Liedes vgl. Strohm 2012. Eine vierstimmige Motette Omnium rerum conditor/ Sancta Maria steh uns bei edierte Feldmann 1938, Anh., 21–27, nach PL-Wu Ms. 2016, fol. 153v–154r (um 1500).
[42] Zur Crailsheimer Schulordnung und ihrem (vermutlich Salzburger) Autor vgl. Janota 1968 und 1980. Zum Media vita vgl. u. a. Lipphardt 1973.
[43] Janota 1968, 220–237; » J. Formen der Laienfrömmigkeit.
[44] Janota 1968, 237–244, mit Verweisen auf Hübner 1931.
[45] Runge 1900; Hübner 1931; Kritische Edition der Lieder in Lütolf 2003–2010, Bd. 5.
[46] Hübner 1931, 174–186 (Lied II) und Faksimile.
[47] Hübner 1931, 187–193 (Lied III) und Faksimile (nur Anfang).
[48] Hübner 1931, 106–108 (Lied I) und Faksimile.
[49] Hübner 1931, 108–109.
[50] Hübner 1931, 80–82 und passim.
[51] Zur vorgeschlagenen Zuschreibung von Joseph, lieber neve mein an den Mönch von Salzburg (G 22) vgl. Janota 1968, 127 und 130–131, und » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg. Die älteste Quelle ist jedoch die aus Leipzig oder Nürnberg stammende Handschrift D-LEu Ms. 1305, ca. 1420, wo das Lied anonym und in einer mitteldeutschen Mundart vorliegt; vgl. Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 426 und 427. In D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, ist das nächste erwähnte Lied dem Mönch explizit zugeschrieben, während Joseph, liebe neve mein anonym bleibt.
[52] Vgl. Ameln 1985. Die Liedverbreitung variiert auch regional: In dulci jubilo ist in den Niederlanden und im Rheinland häufig überliefert, in Böhmen überhaupt nicht.
[53] Vgl. Strohm 2007; siehe dort auch zu den weiteren Cantionen im Orationale.
[54] Dreves 1886, 160; Strohm 2007, 247.
[55] Vgl. Kummer 1882, Nr. II; Janota/Suppan 1990, Nr. 2.
[56] Auch der Hymnus A solis ortus cardine, der nach D-Mbs Cgm 715 dem Kindelwiegen vorausgeht, steht in A-Wn Cod. 4494 (fol. 61v–62r) mit Noten, gefolgt von der Übersetzung Von anegeng der sunne kchlar des Mönchs von Salzburg.
[57] Vgl. Kornrumpf, Gisela: ‚O filii ecclesiae‘/‘Homo, tristis esto‘ (lat. und dt.), in: Stammler 1978–2008, Bd. 11 (2004), Sp. 1061–1065. Zur Marienklage an St. Stephan, Wien, siehe » E. Musik im Gottesdienst.
[58] Zur Erlauer Marienklage siehe Kummer 1882, Nr. VI, und Suppan/Janota 1990, Nr. 6.
[59] Zur Überlieferung beider Gesänge vgl. Stenzl 2001, 166 und 171.
[60] Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 17; Wachinger 1979.
[61] Janota 1968, 83–84, mit weiteren Details zum “Predigtlied”.
[62] Lipphardt 1984, 41 und Anm. 17. Zur Handschrift, einem Processionale aus Salzburg, St. Peter, mit überwiegend lateinischen Choralgesängen, vgl. auch Engels 2007, 259–268.
[63] Vgl. Hascher-Burger 2002, 111–124.
[64] Zu Salve regina-Stiftungen und -Vertonungen siehe » D. Kirche, Hof, Ritual und » E. Musik im Gottesdienst.
[65] Vgl. Angerer 1979; Lipphardt 1984 (mit mehreren Versionen). Dies ist nicht das aus dem 13. Jahrhundert stammende „Melker Marienlied“.
[66] Vgl. Angerer 1979, 151–157; Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 47.
[67] Vgl. Lodes 2001.
[68] Textedition Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 30, Nr. 13, 34–35; Melodie und deutscher Text bei Lütolf 2003–2010, Bd. 2, Nr. 172. Gegen 1500 wurde Patris sapientia bereits als „Horae de Sancta Cruce“ im offiziellen Stundenbuch der römischen Kirche geführt. Die Versform entspricht dem weltlichen Lied Aestuans intrinsecus („Vagantenbeichte“) des Archipoeta (um 1150).
[69] Vgl. Lipphardt 1984, 41; Engels 2007.
[70] Vgl. Weisse 1957; Strohm 2012.
[71] Gloria: I-TRbc 90, Nr. 929 und I-TRcap 93*, Nr. 1739; Credo: I-TRbc 90, Nr. 955 und I-TRcap 93, Nr. 1786. Vgl. Strohm 1985 und Strohm 2009. Das irreguläre Textincipit O patris sapientia ist in einigen Textquellen vorhanden.
[72] Vgl. Strohm 1985.
[73] Edition Noblitt 1987–1996, Nr. 32.
[74] Vgl. Haggh 2012; Strohm 2014, 20–22 und 27–29.
[75] Ich danke Robert Klugseder für die freundliche Überlassung einer Fotokopie des Fragments.