Gesungene Praxis
Keineswegs alle geistlichen Lieder waren zum Singen bestimmt. Bei sehr vielen Dichtungen war der Gesangsvortrag fakultativ oder stellte sich erst im Lauf der Verwendungsgeschichte ein (vgl. Kap. Patris sapientia). Typische Alternativen zu gesungenen Liedern waren die in Guido Maria Dreves‘ Analecta Hymnica so benannten Pia dictamina bzw. „Reimgebete und Leselieder“, also Gedichte für individuelle Meditation oder gesprochenes (Vor-)Lesen. Heinrich Laufenbergs Liedübersetzungen aus dem Lateinischen (» B. Traditionsbildungen des Liedes) sind vielfältig differenzierbar:[17] Es gibt Übersetzungen mit eindeutiger Gebrauchsfunktion – die zur überlieferten Melodie gesungen werden mussten –, didaktische Verskommentare zur Liturgie und Texte für private Frömmigkeitsübungen. Manche dieser Lieder wurden in Zyklen und Serien verfasst.[18]
Nicht selten entstanden geistliche Lieder aus rituellen Handlungen heraus, indem sie die Mitwirkung oder den Respons einer größeren Gemeinschaft implizierten. Das Singen von Liedern in Gottesdiensten, Prozessionen, Mysterienspielen war oft Teil einer körperlichen und/oder kollektiven Aktivität: Man sang nicht nur, sondern tat etwas dazu. Von dieser „gesungenen Praxis“ ist die bloße Kenntnisnahme oder Mitteilung von Liedtexten und ‑melodien zu unterscheiden, wie z. B. beim individuellen Lesen oder Schreiben, wo der Aktionscharakter selbstverständlich geringer war. Freilich zeigt in manchen Aufzeichnungen die Notierung auch der Melodie, dass das Lied nicht nur zum Lesen gedacht war.
Die fromme Übung des „Kindelwiegens“ in der Weihnachts- und Neujahrszeit (» A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche und » A. Weihnachtsgesänge) ist ein Beispiel gesungener Praxis. Doch wie genau passten die Lieder zur Aktion? Unserer Vorstellung nach waren für die Bewegung des Wiegens und für den Reigentanz um die Krippe Lieder im Dreiertakt geradezu unabdingbar. Das beliebte Resonet in laudibus – wohl das älteste bekannte Kindelwiegenlied – ist in älteren Quellen oft rhythmuslos aufgezeichnet und zeigt erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die heutige rhythmische Notation. Im Moosburger Graduale von 1360 (» D-Mu Hs. 2°156; » Notenbsp. Resonet in laudibus) steht auf den jeweils ersten Silben des Tanzrufs „Eya, eya“ eine Doppelnote, auf den zweiten Silben jedoch nicht, so dass der Vortragsrhythmus ursprünglich „lang-kurz, lang-kurz“ gewesen sein dürfte, während später an dieser Stelle meist vier gleiche Längen notiert sind. Somit war zwar der Wiegerhythmus dreizeitig, aber die Taktordnung war nicht symmetrisch wie heute.
Die folgenden Kapitel stellen Beispiele für verschiedene Arten und Intensitätsgrade gesungener Praxis vor, nämlich: Akklamation; Rufe und Leisen; Prozession; Umzüge, Wallfahrten, Geißlerlieder; Szenische Lieder; Betrachtung und Gebet.
[17] Vgl. Wachinger 1979, 375–376.
[18] Vgl. Lütolf 2003–-2010, Bd. 5 (u. a. Geißlerlieder).
[1] Vgl. » A. Weihnachtsgesänge; Harrison 1965. Sammlungen aus Cividale (Kirchenprovinz Aquileia) und Aosta (vgl. Harrison 1965) enthalten manche Konkordanzen mit Quellen aus der Region Österreich.
[2] Sicher ist im Beispiel bei Janota 1968, 74, das Singen des deutschen Christ ist erstanden gemeint.
[3] Vgl. Rajecki 1975/1976, 20; Strohm 1993, 514.
[4] Vgl. zur Einführung Strohm 2015.
[5] Kouba, Jan: Art. “Hus, Jan”, in: Oxford Music Online, URL: http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/13599?q=… [05.12.2014]: “…it seems that he arranged the medieval melody ‘Jesu Kriste, štědrý kněže’ (‘Jesus Christ, thou bountiful prince’) in the Jistebnice Hussite hymnbook (CZ-Pnm Ms. II C 7), and he may also have arranged or translated the texts of several other hymns, but the best-known one attributed to him, ‘Jesus Christus, nostra salus’, is clearly not by him.”.
[6] Bergsagel 1990, 2–4, und Bergsagel/Nielsen 1979 gehen davon aus, dass die zweistimmige Fassung der Handschrift DK-Kar Ms. AM 76, 8º aus Böhmen stammt. Faks. und Übertragung auch bei Kroon, Sigurd u. a. (Hrsg.): A Danish Teacher’s Manual of the Mid-Fifteenth Century, Lund 1993, 36–37. Walther 1969, 498 (Nr. 9846) kennt eine Danziger Quelle des 15. Jahrhunderts.
[7] Vgl. Mužík 1965, 28–29, mit einer Transkription der Melodie nach » H-Bn Ms. lat.243. Weitere Informationen zu tschechischen und polnischen Liedern bei Birnbaum 1974.
[8] Vgl. Greene 1977; Edition mit Melodien in Stevens 1970.
[9] Zur devotio moderna vgl. Hascher-Burger 2002; Quellen zur lateinischen und italienischen Lauda bei Cattin 1977, Luisi 1983 und Diederichs 1986.
[10] Vgl. die Situation in Handschriften aus Seckau und Moosburg. (» A. Weihnachtsgesänge)
[11] Vgl. Rothe 1984, 366; Rothe 1988, 235–241 (Nr. 216A und 216B); Strohm 1993, 331–332.
[12] Rothe 1984, 184–194.
[13] Typische Beispiele solcher aufschlussreicher Quellen sind der Liber ordinarius aus Seckau von 1345 (A-Gu Cod. 756) und die deutschsprachige Liederhandschrift D-Mbs Cgm 715 (ca. 1450, aus Süddeutschland oder Salzburg; » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).
[15] Vgl. Janota 1968, 149–150. Janotas Studie ist auf deutsche Lieder konzentriert; leider fehlt eine ähnliche systematische Untersuchung lateinisch textierter Lieder.
[16] Ich danke Stefan Engels für dementsprechende Hinweise.
[17] Vgl. Wachinger 1979, 375–376.
[18] Vgl. Lütolf 2003–-2010, Bd. 5 (u. a. Geißlerlieder).
[19] Expositio antiphonae „Advenisti desiderabilis“ in der Handschrift A-MB Man. cart. 205 (Tegernsee um 1520), fol. 72r–v.
[20] Zu letzteren vgl. Flotzinger 2007, 219–225.
[21] So heißt es noch im 15. Jahrhundert im Liber Ordinarius von St. Stephan, Wien (A-Wn Cod. 4712; » E. Musik im Gottesdienst): „Plebs habeat vociferacionem suam“ [Randglosse: „populi vociferacio“] (fol. 39r), „populus habet suas vociferaciones aevia aevia [am Rand: „populus habeat vociferacionem“] (fol. 48r) und „layci habeant vociferaciones suas“ (fol. 54v). Wie die drei synonym gebrauchten Worte plebs/populus/layci beweisen, war nicht die Schola gemeint, sondern das allgemeine Kirchenvolk, das „sein Geschrei haben“ durfte.
[22] Dieses Lied soll schon Anfang des 13. Jahrhunderts existiert haben: Vgl. Janota 1968, 171 und 180–182; zu deutschen Liedern im Seckauer Liber ordinarius vgl. Behrendt 2009, 422–436.
[23] Vgl. Janota 1968, 110–114. Die Aufzeichnung in der Handschrift D-EFu Dep. Erf. CA. 4° 332 stammt aus Aachen und ist mensural polyphon (14. Jahrhundert); vgl. RISM B IV, 2, 68–69.
[24] Zu mehrstimmigen Fassungen vgl. » J. SL In Gottes namen faren wir.
[25] Weiteres dazu in Janota 1968, 206–210.
[26] Vgl. Hübner 1931, 251–252.
[27] Vgl. Janota 1968, 213, Anm. 1020. Vgl. Dreves 1886, 6–7, und Birnbaum 1974, auch zu den von der Prager Synode 1408 erlaubten volkssprachlichen Gesängen.
[28] Janota 1968, 44, 71. Zu weiteren Predigtliedern vgl. ebenda.
[29] Vgl. auch Janota 1968, 116, 128.
[30] Vgl. Huglo 1999, 15–16 (Nr. A 12/2).
[31] Ich danke Robert Klugseder für diese persönliche Mitteilung. Vgl. auch Klugseder 2012, 202, mit Edition der Rubrik.
[32] Janota 1968, 161–162.
[33] Diese Aufführungspraxis, die den volkssprachlichen Text gleichsam in den Ritus integriert, betraf nach norddeutschen Quellen z. B. die Weihnachtssequenz Grates nunc omnes reddamus mit ihrer auch musikalisch verwandten Übersetzung Ghelovet seystu Jesu Krist (Janota 1968, 117–118).
[34] Vgl. Huglo 1999, 30–31 (Nr. A-38). Die betreffenden Folios waren früher als fol. 7v–15v nummeriert.
[35] Editionen in Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 1 und 20.
[36] Janota 1968, 187–191.
[37] Strohm 1993, 337–338, mit Notenbeispiel.
[38] Janota 1968, 191–192, Anm. 894. Vgl. auch Lütolf 2003–2010, Nr. 217.
[39] Janota 1968, 152–153, mit Belegen u. a. aus dem Seckauer Liber ordinarius. Zur Wiener Palmsonntagsprozession siehe » E. Musik im Gottesdienst.
[40] Janota 1968, 220–237, umfasst alle Prozessionen und ihre Lieder, allerdings mit besonderem Gewicht auf den deutschsprachigen.
[41] Zur noch wenig erforschten Herkunft dieses Liedes vgl. Strohm 2012. Eine vierstimmige Motette Omnium rerum conditor/ Sancta Maria steh uns bei edierte Feldmann 1938, Anh., 21–27, nach PL-Wu Ms. 2016, fol. 153v–154r (um 1500).
[42] Zur Crailsheimer Schulordnung und ihrem (vermutlich Salzburger) Autor vgl. Janota 1968 und 1980. Zum Media vita vgl. u. a. Lipphardt 1973.
[43] Janota 1968, 220–237; » J. Formen der Laienfrömmigkeit.
[44] Janota 1968, 237–244, mit Verweisen auf Hübner 1931.
[45] Runge 1900; Hübner 1931; Kritische Edition der Lieder in Lütolf 2003–2010, Bd. 5.
[46] Hübner 1931, 174–186 (Lied II) und Faksimile.
[47] Hübner 1931, 187–193 (Lied III) und Faksimile (nur Anfang).
[48] Hübner 1931, 106–108 (Lied I) und Faksimile.
[49] Hübner 1931, 108–109.
[50] Hübner 1931, 80–82 und passim.
[51] Zur vorgeschlagenen Zuschreibung von Joseph, lieber neve mein an den Mönch von Salzburg (G 22) vgl. Janota 1968, 127 und 130–131, und » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg. Die älteste Quelle ist jedoch die aus Leipzig oder Nürnberg stammende Handschrift D-LEu Ms. 1305, ca. 1420, wo das Lied anonym und in einer mitteldeutschen Mundart vorliegt; vgl. Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 426 und 427. In D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, ist das nächste erwähnte Lied dem Mönch explizit zugeschrieben, während Joseph, liebe neve mein anonym bleibt.
[52] Vgl. Ameln 1985. Die Liedverbreitung variiert auch regional: In dulci jubilo ist in den Niederlanden und im Rheinland häufig überliefert, in Böhmen überhaupt nicht.
[53] Vgl. Strohm 2007; siehe dort auch zu den weiteren Cantionen im Orationale.
[54] Dreves 1886, 160; Strohm 2007, 247.
[55] Vgl. Kummer 1882, Nr. II; Janota/Suppan 1990, Nr. 2.
[56] Auch der Hymnus A solis ortus cardine, der nach D-Mbs Cgm 715 dem Kindelwiegen vorausgeht, steht in A-Wn Cod. 4494 (fol. 61v–62r) mit Noten, gefolgt von der Übersetzung Von anegeng der sunne kchlar des Mönchs von Salzburg.
[57] Vgl. Kornrumpf, Gisela: ‚O filii ecclesiae‘/‘Homo, tristis esto‘ (lat. und dt.), in: Stammler 1978–2008, Bd. 11 (2004), Sp. 1061–1065. Zur Marienklage an St. Stephan, Wien, siehe » E. Musik im Gottesdienst.
[58] Zur Erlauer Marienklage siehe Kummer 1882, Nr. VI, und Suppan/Janota 1990, Nr. 6.
[59] Zur Überlieferung beider Gesänge vgl. Stenzl 2001, 166 und 171.
[60] Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 17; Wachinger 1979.
[61] Janota 1968, 83–84, mit weiteren Details zum “Predigtlied”.
[62] Lipphardt 1984, 41 und Anm. 17. Zur Handschrift, einem Processionale aus Salzburg, St. Peter, mit überwiegend lateinischen Choralgesängen, vgl. auch Engels 2007, 259–268.
[63] Vgl. Hascher-Burger 2002, 111–124.
[64] Zu Salve regina-Stiftungen und -Vertonungen siehe » D. Kirche, Hof, Ritual und » E. Musik im Gottesdienst.
[65] Vgl. Angerer 1979; Lipphardt 1984 (mit mehreren Versionen). Dies ist nicht das aus dem 13. Jahrhundert stammende „Melker Marienlied“.
[66] Vgl. Angerer 1979, 151–157; Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 47.
[67] Vgl. Lodes 2001.
[68] Textedition Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 30, Nr. 13, 34–35; Melodie und deutscher Text bei Lütolf 2003–2010, Bd. 2, Nr. 172. Gegen 1500 wurde Patris sapientia bereits als „Horae de Sancta Cruce“ im offiziellen Stundenbuch der römischen Kirche geführt. Die Versform entspricht dem weltlichen Lied Aestuans intrinsecus („Vagantenbeichte“) des Archipoeta (um 1150).
[69] Vgl. Lipphardt 1984, 41; Engels 2007.
[70] Vgl. Weisse 1957; Strohm 2012.
[71] Gloria: I-TRbc 90, Nr. 929 und I-TRcap 93*, Nr. 1739; Credo: I-TRbc 90, Nr. 955 und I-TRcap 93, Nr. 1786. Vgl. Strohm 1985 und Strohm 2009. Das irreguläre Textincipit O patris sapientia ist in einigen Textquellen vorhanden.
[72] Vgl. Strohm 1985.
[73] Edition Noblitt 1987–1996, Nr. 32.
[74] Vgl. Haggh 2012; Strohm 2014, 20–22 und 27–29.
[75] Ich danke Robert Klugseder für die freundliche Überlassung einer Fotokopie des Fragments.