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Rufe und Leisen

Reinhard Strohm

Aus Anrufungen, Responsen oder Bittrufen – musikalische Aktionen, mit denen eine Gemeinde auf die liturgischen Riten reagieren durfte – ist das volkssprachliche Kirchenlied entstanden.

Am bekanntesten war bereits im Mittelalter die Leise Christ ist erstanden, die seit dem 12. Jahrhundert in einer Antwort der Laien auf die Verkündigung der Auferstehung am Ende der visitatio sepulchri bestand (» B. SL Christ ist erstanden). Eine solche Antwort wird in zeitgenössischen Vorschriften gerne als „acclamatio“ oder „vociferatio“ (Anrufung, Geschrei) bezeichnet: ein Terminus, der überhaupt gern für die musikalische Beteiligung des Kirchenvolkes angewendet wurde.[21]

Der Liber ordinarius von Seckau (1345) erwähnt als unterbrechende Akklamation des Laienvolks gegen den Chor („populo interim acclamante“) außer Christ ist erstanden noch ein anderes deutsches Lied, nämlich das erzählende Es giengen drei vrauwen.[22]

 

Abb. Es giengen drei vrauwen

Abb. Es giengen drei vrauwen

Es giengen drei vrauwen und Christ ist erstanden (mit Neumen) am Schluss der visitatio sepulchri (linke Spalte unten)Seckauer Liber ordinarius, Universitätsbibliothek Graz (A-Gu), Cod. 756, fol. 90v.

Neben Christ ist erstanden ist einer der ältesten Rufe in deutscher Sprache der schon im 11. Jahrhundert belegte Ostergesang Nu sys uns willekommen herro Christ, der in Norddeutschland (z. B. Aachen) im 13. und 14. Jahrhundert zeremoniell Verwendung fand, jedoch im süddeutschen Raum noch nicht nachgewiesen ist.[23] Typischer für die Region Österreich sind die heute noch bekannten Leisen Nu bitten wir den heiligen geist und In gottes namen faren wir, die vor allem für Wallfahrten und Pilgerreisen dienten.

Das Pilgerlied In gottes namen faren wir wird erstmalig 1210 bei Gottfried von Straßburg zitiert;[24] Nu bitten wir den heiligen geist wurde im 13. Jahrhundert in einer dem berühmten Berthold von Regensburg (» Abb. Berthold von Regensburg) zugeschriebenen Predigt empfohlen (» A. Der Kremsmünsterer ludus). Dieser Leis und auch das Pfingstlied Kom heiliger geist, herre got dürften beide von der Antiphon Veni sancte spiritus, reple tuorum corda abgeleitet sein, obwohl sie in örtlichen Varianten der Aufführungspraxis auch mit der Sequenz Veni sancte spiritus, et emitte celitus zusammengebracht wurden.[25] Die Anrufung des heiligen Geistes galt als besonders wirksam gegen raschen Tod, weshalb sie als Bittlied für Pilgerfahrten geeignet war.[26]

Rufe und Leisen waren auch in Böhmen verbreitet. In tschechischer Sprache ist schon 1375 der Ruf Hospodine pomiluj (Herr erbarme dich) überliefert, der vor der Predigt und während der Messe gesungen wurde.[27]

 Manche Rufe und Leisen sind heute vergessen. Helfen uns alle heiligen wurde mancherorts nach der Predigt am Allerheiligentag gerufen.[28] Ein anderer spontan lautender Bittruf, Nu helfe uns sande Marie, erklang in der Steiermark seit dem 13. Jahrhundert am Ende der ersten Weihnachtsmesse, im Zusammenhang mit der Lesung des Liber generationis und dem Gesang des Te deum laudamus. Im Seckauer Liber ordinarius von 1345 (fol. 33r) ist der Vorgang genau rubriziert und mit Noten versehen: „Te Deum. Populo acclamante Helf uns sande Mareye, helfet uns hymelischeu vrauwe“. [29]

In einer Handschrift des Klosters Lambach aus dem 14. Jahrhundert (» A-LA Hs. 57) findet sich noch ein anderer heute verschwundener Text: Der Hymnus Rex Christe factor am Ende der Finstermette (» A. Osterfeier) wird strophenweise unterbrochen durch den Ruf der „Landleute“ („post unumquemque versum respondent rustici in hunc modum“): „Ist diu werlt alle so wundern fro dass sey got erlöset von der helle“.[30] Robert Klugseder entdeckte denselben Ruf, mit Neumen, in einem Brevier des Klosters Mondsee von etwa 1280 (» A-Wn Cod. 1985, fol. 183r) in der folgenden Form: „Kyrieleyson. Ia ist diu werlt elliu also fro, daz si got erloeste von der helle mit sein selbers pluete, er lait so vil der note durch die leute kyrieleyson“ (Nun ist die ganze Welt so froh, dass Gott sie erlöste von der Hölle mit seinem eigenen Blut, er litt so viel Not durch die Menschen, Kyrie eleison).[31] Es gibt weitere Belege aus der Salzburger Kirchenprovinz (Admont, St. Lambrecht) und aus Basel.[32] Eine Alternative war (u. a. in St. Lambrecht), den Hymnus Rex Christe factor strophenweise mit seiner eigenen Übersetzung Christ schepfer alles des da ist abwechseln zu lassen.[33]

[21] So heißt es noch im 15. Jahrhundert im Liber Ordinarius von St. Stephan, Wien (A-Wn Cod. 4712; » E. Musik im Gottesdienst): „Plebs habeat vociferacionem suam“ [Randglosse: „populi vociferacio“] (fol. 39r), „populus habet suas vociferaciones aevia aevia [am Rand: „populus habeat vociferacionem“] (fol. 48r) und „layci habeant vociferaciones suas“ (fol. 54v). Wie die drei synonym gebrauchten Worte plebs/populus/layci beweisen, war nicht die Schola gemeint, sondern das allgemeine Kirchenvolk, das „sein Geschrei haben“ durfte.

[22] Dieses Lied soll schon Anfang des 13. Jahrhunderts existiert haben: Vgl. Janota 1968, 171 und 180–182;  zu deutschen Liedern im Seckauer Liber ordinarius vgl. Behrendt 2009, 422–436.

[23] Vgl. Janota 1968, 110–114. Die Aufzeichnung in der Handschrift D-EFu Dep. Erf. CA. 4° 332 stammt aus Aachen und ist mensural polyphon (14. Jahrhundert); vgl. RISM B IV, 2, 68–69.

[24] Zu mehrstimmigen Fassungen vgl. » J. SL In Gottes namen faren wir.

[25] Weiteres dazu in Janota 1968, 206–210.

[26] Vgl. Hübner 1931, 251–252.

[27] Vgl. Janota 1968, 213, Anm. 1020. Vgl. Dreves 1886, 6–7, und Birnbaum 1974, auch zu den von der Prager Synode 1408 erlaubten volkssprachlichen Gesängen.

[28] Janota 1968, 44, 71. Zu weiteren Predigtliedern vgl. ebenda.

[29] Vgl. auch Janota 1968, 116, 128.

[30] Vgl. Huglo 1999, 15–16 (Nr. A 12/2).

[31] Ich danke Robert Klugseder für diese persönliche Mitteilung. Vgl. auch Klugseder 2012, 202, mit Edition der Rubrik.

[32] Janota 1968, 161–162.

[33] Diese Aufführungspraxis, die den volkssprachlichen Text gleichsam in den Ritus integriert, betraf nach norddeutschen Quellen z. B. die Weihnachtssequenz Grates nunc omnes reddamus mit ihrer auch musikalisch verwandten Übersetzung Ghelovet seystu Jesu Krist (Janota 1968, 117–118).