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Europäische geistliche Liedrepertoires

Reinhard Strohm

Im Spätmittelalter existierte längst ein überregionaler Fundus geistlicher lateinischer Lieder. Viele der älteren Lieder waren Tropen zum Benedicamus domino, die am Ende von Vesper oder Matutin gesungen wurden und somit in klösterlichen Gemeinschaften zu Hause waren. Bestimmte Tropen und Conductus wie Ad cantus leticie oder Verbum patris hodie, die z. T. noch auf das aquitanische Repertoire des 12. Jahrhunderts zurückgehen, waren vom Mittelmeerraum bis England im Gebrauch.[1] Die Überregionalität von Liedern erfährt heute zu wenig Beachtung, da die Forschung sich an nationalsprachlichen Grenzen orientiert. Sogar eine deutsche Leise wie Christ ist erstanden war immerhin von Siebenbürgen bis in die Niederlande bekannt; lateinische Übersetzungen zirkulierten auch in anderen Sprachgebieten. Dabei ist nicht immer sicher, ob Quellenhinweise auf ein Lied Christus surrexit sich auf das Singen des lateinischen Textes beziehen oder ob volkssprachlich gesungen wurde und nur der Hinweistext die lateinische Form wählt.[2] In einem Handschriftenfragment des ehemaligen Dominikanerklosters von Košiče (Slowakei, ehemals ungar. Kassa) ist neben einfachen mehrstimmigen Gesängen und Ars nova-Sätzen die einstimmige Melodie von Christ ist erstanden mit Worten in vier Sprachen unterlegt: lateinisch (Christus surrexit), Ungarisch, Tschechisch (Buoh wssemohucy) und Polnisch.[3]

Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden lateinische Cantionen in Böhmen, Mähren, Schlesien, Polen, dem deutsch-österreichisch-schweizerischen Raum und den Niederlanden.[4] Die Schaffung neuer lateinischer Lieder, oft in weltlichen Strophen- und Refrainformen, verlief parallel zu einem vergleichbaren Zuwachs neuer Texte für den traditionellen Kirchenchoral (z. B. in der Form von Tropen), neuer Reimgebete und geistlicher Dichtungen für den individuellen Gebrauch (vgl. Kap. Betrachtung und Gebet und Kap. Patris sapientia). Im 14. Jahrhundert waren monastische Institutionen besonders produktiv. Einen klösterlichen Hintergrund hat wahrscheinlich die Fronleichnams-Cantio Jesus Christus nostra salus, die irrig Jan Hus (ca. 1369-1415) zugeschrieben wurde und heute in einer Bearbeitung Martin Luthers bekannt ist (Jesus Christus, unser Heiland).[5] Dieses aus Böhmen stammende Lied findet sich schon im 15. Jahrhundert auch im österreichischen Raum (» A-Wn Cod. 4494), im Rheinland (Trier), in Westpreußen (Danzig) und in Dänemark.[6] Das tschechische „geistliche Volkslied“ Jesu Kriste, ščedrý kněže – eine der nur vier volkssprachlichen Cantionen, die im Jahr 1408 von der Prager Synode zum Singen zugelassen wurden – ist in der Melodie vielleicht ursprünglich mit der deutschen Leise Nu bitten wir den heiligen geist verwandt (» A. Dorotheenspiel).[7]

Viele lateinische und volkssprachliche Lieder zu Weihnachten, Ostern, zur Marienverehrung und zu festlichen Gelegenheiten wie Prozessionen und Wallfahrten entstanden vor 1400 in Südeuropa: die Cantigas de Santa Maria, die italienische Lauda, die Pilgerlieder des katalonischen Llibre Vermell von Montserrat (E-MO Ms. 1). In England begann um 1400 die Praxis des Carol-Singens: nicht zum Tanz (carole = Tanzlied), sondern zu Andachten, Kollegienfesten und Umzügen.[8] Im Gegensatz zu den meisten Liedrepertoires auf dem Kontinent ist die englische Carol des 15. Jahrhunderts überwiegend mehrstimmig überliefert. Seit etwa 1390 dichteten in den Niederlanden Mitglieder der devotio moderna, der Beginen und Begarden, der Laienbruderschaften und Bettelorden neue lateinische Lieder, die z. T. religiöse Mystik und Innerlichkeit ausdrücken, so wie es auch in einem Zweig der Lauda des 15. Jahrhunderts zu beobachten ist.[9]

[1] Vgl. » A. WeihnachtsgesängeHarrison 1965. Sammlungen aus Cividale (Kirchenprovinz Aquileia) und Aosta (vgl. Harrison 1965) enthalten manche Konkordanzen mit Quellen aus der Region Österreich.

[2] Sicher ist im Beispiel bei Janota 1968, 74, das Singen des deutschen Christ ist erstanden gemeint.

[3] Vgl. Rajecki 1975/1976, 20; Strohm 1993, 514.

[4] Vgl. zur Einführung Strohm 2015.

[5] Kouba, Jan: Art. “Hus, Jan”in: Oxford Music OnlineURLhttp://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/13599?q=… [05.12.2014]: “…it seems that he arranged the medieval melody ‘Jesu Kriste, štědrý kněže’ (‘Jesus Christ, thou bountiful prince’) in the Jistebnice Hussite hymnbook (CZ-Pnm Ms. II C 7), and he may also have arranged or translated the texts of several other hymns, but the best-known one attributed to him, ‘Jesus Christus, nostra salus’, is clearly not by him.”.

[6] Bergsagel 1990, 2–4, und Bergsagel/Nielsen 1979 gehen davon aus, dass die zweistimmige Fassung der Handschrift DK-Kar Ms. AM 76, 8º aus Böhmen stammt. Faks. und Übertragung auch bei Kroon, Sigurd u. a. (Hrsg.): A Danish Teacher’s Manual of the Mid-Fifteenth Century, Lund 1993, 36–37. Walther 1969, 498 (Nr. 9846) kennt eine Danziger Quelle des 15. Jahrhunderts.

[7] Vgl. Mužík 1965, 28–29, mit einer Transkription der Melodie nach » H-Bn Ms. lat.243. Weitere Informationen zu tschechischen und polnischen Liedern bei Birnbaum 1974.

[8] Vgl. Greene 1977; Edition mit Melodien in Stevens 1970.

[9] Zur devotio moderna vgl. Hascher-Burger 2002; Quellen zur lateinischen und italienischen Lauda bei Cattin 1977Luisi 1983 und Diederichs 1986.