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Patris sapientia

Reinhard Strohm

Das Reimgebet Patris sapientia soll um 1310 von Kardinal Egidio Colonna (Aegidius Romanus) verfasst worden sein, obwohl es auch Papst Johannes XXII. zugeschrieben worden ist.[68] Das Gedicht wird zu den Tagzeiten der Passion Christi am Karfreitag gebetet, von der Matutin bis zur Komplet. In jeder Strophe wird eine Station des Leidens Christi erzählt, in die sich der Beter hineinversenken soll. So lautet der Beginn der ersten Strophe:
Patris sapientia, veritas divina,
Deus homo captus est hora matutina…
(Die Weisheit des Vaters, die göttliche Wahrheit, Gott, wurde als Mensch gefangen in der Mettenstunde…)
Die vorgestellte Situation ist die der Gefangennahme Christi durch die Knechte des Hohepriesters auf dem Ölberg.

 

Abb. Gefangennahme Christi

Abb. Gefangennahme Christi

Die Gefangennahme Christi (Deus homo captus est hora matutina). Meister des Andreasaltars, um 1450. Wien, Belvedere Museum, Inv. Nr. 4923.

 

Patris sapientia ist besonders im süddeutsch-österreichischen Gebiet in vielen Quellen für den privaten und klösterlichen Gebrauch enthalten, auch in mehreren deutschen Übersetzungen. Charakteristisch ist die Textfassung Dye weishait und gotlich warhait in der Handschrift A-Wn Cod. 4091 (fol. 180r–182r; um 1490). Diese Übersetzung wurde 1504 in Nürnberg mit Melodie gedruckt. Ein Kontrafaktum als Mariengebet ist Maria zw metten zeyt in der aus Mondsee stammenden Liedersammlung » A-Wn Cod. 3027 (fol. 210v–213v). Die Handschrift » A-MB Man. cart. 1 enthält auf fol. 81–83 gleich zwei der zahlreichen mehrstimmigen Sätze, die in dieser Zeit entstanden. [69]

Eine lateinische Motette über die Melodie mit dem Text Tu qui cuncta imperas findet sich im „Specialnik“-Codex von Hradec Kralové (» CZ-HKm Ms. II A 7, S. 202–203; » F. Sources of Polyphony in the Bohemian lands). Auch eine tschechische Übersetzung von Patris sapientia ist bekannt (Moudrost boha otce prawda), sie scheint jedoch auf die Melodie von Crux fidelis (Pange lingua) gesungen worden zu sein. Das Gesangbuch der böhmischen Brüder von Michael Weisse (1531) enthält dann die Melodie und zwei deutsche Übersetzungen, von denen Christus, der uns selig macht in das lutherische Gesangbuch einging und bis heute bekannt ist.[70]

Doch wie wurde dieses Reimgebet zum Lied? Während der Text aus dem frühen 14. Jahrhundert stammt, ist die bekannte Melodie erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert. Sie entspricht formal einem vierzeiligen Hymnus, doch die syllabische Deklamation mit überdehnten Zeilenschlüssen und der explizite E-Modus (mit Kadenzen auf der seltenen Dominantstufe „h“) deuten auf böhmische Tropen und Cantionen schon des 14. Jahrhunderts. Es scheint deshalb möglich, dass das Reimgebet erstmalig in Böhmen gegen 1400 als Passionshymnus gesungen wurde.

 

 

Abb. Patris sapientia

Abb. Patris sapientia

Text und Melodie des Patris sapientia in der Handschrift » A-LIb Hs. 713 (um 1500), fol. 1v. Das Papierdoppelblatt von fol. 1–4 wurde als Brief verschickt (mehrmalige Faltung). Auf fol. 4v ist der Entwurf eines lateinischen Briefes notiert, auf fol. 1r ein Credo in Cantus fractus (» A. Rhythmischer Choralgesang). Humanistische Schrift, auch in den Musikstrophen.

Älter als die einstimmigen Aufzeichnungen der Melodie ist eine dreistimmige cantus-firmus-Bearbeitung: nämlich ein zusammengehöriges Paar der Messsätze Gloria und Credo, betitelt O patris sapientia, in den Trienter Codices » I-TRcap 93* und » I-TRbc 90.[71] Diese Kompositionen müssen spätestens 1455 niedergeschrieben worden sein. Die Melodie wird in der Komposition z. T. durch lange Noten emphatisch hervorgehoben und offensichtlich als bekannt vorausgesetzt. Falls die Vermutung richtig ist, dass die einstimmige Melodie in Böhmen entstand, könnte sogar die Messvertonung von dort stammen und somit hussitischer (utraquistischer) Herkunft sein.[72]

 

Eine vierstimmige Vertonung von Egidio Colonnas Reimgebet, mit der Textvariante Natus sapientia, findet sich im Innsbrucker Leopold-Codex, in einem der frühen Faszikel von ca. 1476 (» D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 42v–48v). Sie besteht aus acht Motetten, die anstatt der Messsätze des Ordinariums und Propriums gesungen werden konnten. Sie ähnelt somit den Motettenzyklen, die damals am Sforza-Hof von Mailand gepflegt wurden („Mottetti missales“), und gelangte wahrscheinlich von dort aus in die Innsbrucker Hofkantorei.[73] In der Oberstimme ist nicht die bekannte Liedmelodie, sondern ein anderer, nicht unähnlicher cantus firmus verarbeitet.

[68] Textedition Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 30, Nr. 13, 34–35; Melodie und deutscher Text bei Lütolf 2003–2010, Bd. 2, Nr. 172. Gegen 1500 wurde Patris sapientia bereits als „Horae de Sancta Cruce“ im offiziellen Stundenbuch der römischen Kirche geführt. Die Versform entspricht dem weltlichen Lied Aestuans intrinsecus („Vagantenbeichte“) des Archipoeta (um 1150).

[69] Vgl. Lipphardt 1984, 41; Engels 2007.

[70] Vgl. Weisse 1957Strohm 2012.

[71] Gloria: I-TRbc 90, Nr. 929 und I-TRcap 93*, Nr. 1739; Credo: I-TRbc 90, Nr. 955 und I-TRcap 93, Nr. 1786. Vgl. Strohm 1985 und Strohm 2009. Das irreguläre Textincipit O patris sapientia ist in einigen Textquellen vorhanden.

[72] Vgl. Strohm 1985.

[73] Edition Noblitt 1987–1996, Nr. 32.