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Ein transkulturelles Repertoire

Reinhard Strohm

Geistliche Lieder des Mittelalters, vor allem Weihnachtslieder wie In dulci jubilo oder Joseph, lieber Joseph mein (Joseph dearest, Joseph mine), sind heute vielen Menschen in aller Welt bekannt, innerhalb und außerhalb der ehemals „abendländischen“ Tradition. Diese Bruchstücke einer sonst fast vergessenen Kulturwelt scheinen wenig von ihrem familienfreundlichen Charme verloren zu haben, auch wenn die ihnen zugeordnete musikalische Praxis heute völlig anders ist: Die Lieder werden kaum mehr erlernt und gesungen, sondern abgespielt und in den Medien verbreitet. Die transkulturelle Wanderung des Repertoires könnte aber bereits mit dessen Ursprüngen zusammenhängen, denn es entstand und verbreitete sich von Anfang an als Alternative zum strikten kirchlichen Ritus (auch im aufführungspraktischen Sinn), so als ob es von vornherein zur Veränderung bestimmt gewesen sei. In der Neuzeit überstanden geistliche Lieder die Konfessionsunterschiede (z. B. durch Textanpassungen) und die Säkularisierung (z. B. durch Neudichtungen und Reformen); sie gelangten in andere Kontinente und werden seit dem 20. Jahrhundert auch in Popsongs verwandelt (z. B. durch musikalische Bearbeitungen). Und Textanpassungen, Neudichtungen, Reformbewegungen, musikalische Bearbeitungen kennzeichnen bereits das spätmittelalterliche Repertoire.