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Komposition, Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Reinhard Strohm

Die öfters gestellte Frage, ob man bei der klösterlichen Mehrstimmigkeit von „Komposition“ oder „Vertonung“ sprechen kann,[62] betrifft einen Streit um Worte. Keinesfalls darf den Musikern des Mittelalters – bei all ihrem Respekt für Traditionen – Erfindertum und Originalität abgesprochen werden.[63] Um aber Verwechslung mit moderneren Kompositionsbegriffen zu vermeiden, genügen wohl folgende Feststellungen: Die hier gemeinte Praxis überliefert keinen Komponistennamen. Die verschiedenen Stücke sind, wie gezielte Vergleiche bestätigen,[64] durch fortschreitende Adaptierung lokal oder regional maßgebender Vorlagen entstanden, wie im einstimmigen Choral. Ob diese Vorlagen schriftlich oder nur im Gedächtnis zugänglich waren, kann aus den uns erreichbaren schriftlichen Varianten nicht immer sicher erschlossen werden.[65] Genau wie in der Praxis des Kirchenchorals konnten die an der Mehrstimmigkeit beteiligten Musiker die meisten Stücke ohne Schrift erfinden, erlernen, adaptieren und aus dem Gedächtnis bzw. ex tempore vortragen. Der extemporierte Vortrag nach strikten Intervallregeln wurde häufig und auch kollektiv praktiziert.[66]

Genau wie in der Praxis des Kirchenchorals jedoch war schriftliche Aufzeichnung eine kulturelle Priorität in dieser sozial privilegierten Kunst. Wenn man fragen wollte, von welcher damaligen Gesellschaftsgruppe die schriftliche Fixierung ihres Tuns am ehesten zu erwarten sei, dann wäre die beste Antwort: „von den Klöstern“. Nach den Quellenverlusten späterer Jahrhunderte sind uns aus dem europäischen Mittelalter immer noch mehr Handschriften aus Klöstern erhalten als aus irgendeinem anderen Gesellschaftsbereich, und dies schließt musikalisch notierte Quellen ein. Man hat damals Musik in Klöstern häufiger aufgeschrieben als in der weltlichen Sphäre. Deshalb ist es ganz unwahrscheinlich, dass die Überlieferung klösterlicher Mehrstimmigkeit sich mehr mündlich abgespielt hätte als die irgendeiner weltlichen Musikart.[67]

Trotzdem haben Forscher die mündliche Überlieferungspraxis als entscheidend für das Verständnis dieser Mehrstimmigkeit angesehen. Sie wurde als mündliche Musiktradition verstanden, ja sogar als „illiterate“ bezeichnet, zur Unterscheidung von einer „literate“ Tradition, zu denen vor allem die mensurale Polyphonie gerechnet wurde.[68] Hier liegt wohl das Bestreben vor, dem heutigen Leser die Alterität der allgemeinen nichtmensuralen Musikpraxis jener Zeit gegenüber modernen Schrift- und Werkbegriffen einzuprägen. Als Gegenbild dient die Polyphonie seit der Pariser Ars antiqua, die den Werk- und Fortschrittcharakter der modernen Musik begründe und überhaupt erst das schriftliche Komponieren ermöglicht habe.[69] Angesichts der Komplexität der Interaktion von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in damaligen Gesellschaften scheint es jedoch übertrieben, wenn die beiden Praktiken so eindeutig bestimmten künstlerischen Traditionen zugeordnet werden. Auch die Polyphonie der sogenannten „Notre-Dame-Schule“ bediente sich der Mündlichkeit und des Gedächtnisses;[70] die liturgische Einstimmigkeit und deren mehrstimmige Ausschmückung hingegen wurde innerhalb bestimmter Trägergemeinschaften (z.B. einem Kloster, einem Orden, einer Diözese) zum Zweck der Traditionspflege und Konformität nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich erfasst und weitergegeben.

[62] Zu dieser Frage speziell bei Liedern vgl. » B. Kap. Mehrstimmige Liedvertonung. Argumente gegen die Einstufung Oswalds von Wolkenstein als „Komponist“ (was nicht dasselbe ist wie die Einstufung bestimmter Stücke als “Kompositionen”) sind gesammelt bei Strohm 2012/2013.

[63] Vgl. die Beschreibung einer vielleicht als Kompositionsversuch anzusehenden Lektions-Niederschrift in » C. Kompositorische Lernprozesse.

[64] Vgl. z.B. die Variantentabellen von Tamquam sponsus und anderen Stücken bei Celestini 1995 und 2002.

[65] Zu ungefähr diesem Ergebnis gelangt in einem wichtigen Beitrag Treitler 1989.

[66] “Improvisieren” wäre nicht das passende Wort, insoweit man liturgische Texte und strikte Textformen zu beachten und im Kollektiv zu singen hatte.

[67] Die umfangreiche Literatur zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Musik der Epoche ist ferner angedeutet bei Gallo 1989, Rankin 2002Celestini 2002 und Mele 2002.

[68] Vgl. Celestini 2002, S. 130, mit Bezug auf Leo Treitler. Treitler 1989 sieht eher nur einen Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit innerhalb der Praxis. Die englische Vokabel “illiterate” bezeichnet eine Person, die nicht lesen und schreiben kann oder von einer bestimmten Sache nicht das Geringste versteht; sie sollte also hier vermieden werden.

[69] Vgl. u.a. Göllner 1989, besonders S. 185.

[70] Vgl. Busse Berger 2005.