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Typische Gesangsgattungen klösterlicher Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

Immer wieder hat die Forschung festgestellt, wie viele Gattungen der Choraltradition in nichtmensuraler Mehrstimmigkeit vorgetragen werden konnten, wobei die tatsächliche Praxis sicher noch viel weiter gestreut war als die erhaltenen schriftlichen Quellen verraten.[19] Arnold Geering (1952) unterschied für das deutsche Sprachgebiet zwischen Gesängen des Messordinariums, Kompositionen zum Benedicamus Domino, Gesängen des Messpropriums und des Offiziums (Stundengebets), Lektions-Kompositionen, lateinischen Cantionen und Liedern in der Volkssprache.[20] Theodor Göllner (1961) identifizierte in einer einzigen liturgischen Quelle, der aus Südbayern oder Prag stammenden Handschrift » GB-Lbl add. 27630,[21] zwölf verschiedene Gattungen tropierter und untropierter Gesänge des Offiziums und der Messe. Rudolf Flotzinger (1989) gliederte den in österreichischen Quellen überlieferten Bestand (140 Stücke in 31 Handschriften)[22] in Messordinarium, Messproprium, Messen-Akklamationen, „Offizium“ (untropierte Benedicamus domino), Benedicamustropen, Invitatorium, Antiphonen, Responsoriumsverse, Hymnen, Lesungen, Motetten, Conducten und Fragmente in einem nichtmensuralen Stil. 

Wahrscheinlich überschritt diese Praxis den vom päpstlichen Dekret (» Kap. Ablehnung der Mehrstimmigkeit) empfohlenen Rahmen hochfestlicher Gottesdienste. Doch betraf ein Haupteinwand des Dekrets ja die Zerstörung der Einheit des Kirchenchorals durch mensurale Rhythmen, was voraussetzte, dass überhaupt Melodien des traditionellen cantus planus verwendet wurden. In vielen tropierten Gesängen war das nicht der Fall: Zu neuen Tropustexten wurden oft neue Melodien eingeführt. Auch das „Auskomponieren“ und Weiterspinnen überlieferter Choralmelodien, mit Einschaltungen und Vorschaltungen melodischer Abschnitte, war häufig. Papst Johannes hatte diese Tendenz ebenfalls bemerkt und kritisiert: „[sie] wollen ihre eigenen Gesänge singen anstatt die alten“. Es ist also zu unterscheiden, ob die Mehrstimmigkeit „alte Gesänge“ (d.h. den cantus planus) durch Zusatzstimmen ausschmückt, durch textliche und musikalische Tropierungen erweitert, oder ganz unbeachtet lässt und dem mehrstimmigen Gesang neue Melodien zugrundelegt. Auch waren die verwendeten Choralmelodien in ihrer einstimmigen Form oft in chorisch und solistisch gesungene Abschnitte gegliedert: blieb diese eingeübte Praxis bei mehrstimmigem Vortrag erhalten? Es gab z.B. die Optionen der chorischen Mehrstimmigkeit, der Abwechslung zwischen Chor und Solisten, oder des chorischen Vortrags der Grundstimme mit solistischen Zusatzstimmen.

Nichtmensurale Mehrstimmigkeit kommt in folgenden typischen Gattungen und Ausführungsweisen vor:

  1. Choraliter gesungene Stücke in Offizium und Messe mit Choralgrundlage. Hierzu gehören vor allem Ordinariumssätze (Kyrie, Credo, Sanctus, Agnus Dei), Propriumssätze (Graduale, Sequenzen) und chorische Offiziumsgesänge (Hymnen, Antiphonen). Die letztgenannten sind wesentlich seltener mehrstimmig überliefert.
  2. Solistisch vorgetragene Abschnitte responsorialer Gesänge in Messe und Offizium: Graduale, Alleluia, Responsorien des Offiziums.
  3. Lesungen des Stundengebets und der Messe, besonders zum Weihnachtsfest.
  4. Tropen zu Messe und Offizium, besonders zum Benedicamus Domino, und Cantionen (Strophenlieder).
  5. Conducten und Motetten in nichtmensuralen Rezeptionsfassungen.  

[19] Zur Verbreitung ausserhalb Zentraleuropas vgl. » Kap. Verbreitung.

[20] Geering 1952.

[21] Göllner 1961. Edition der Handschrift: Dömling 1972. Joseph Willimann schlug Prager Herkunft vor: vgl. Stenzl 2000, S. 176.

[22] Flotzinger 1989; diese Zahl ist seither angewachsen.