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Nichtmensurale Satztechniken

Reinhard Strohm

Im vormensuralen Organum wurde die Choralmelodie (vox principalis) gewöhnlich von einer Zusatzstimme (vox organalis) Note gegen Note begleitet. Ungeschriebene melismatische Auszierungen wurden vermutlich ebenfalls hinzugefügt. Im sogenannten „neuen Organum“ seit Guido von Arezzo (11. Jahrhundert) waren Gegenbewegung und Klangqualitätenwechsel (Abwechslung zwischen verschiedenen Konsonanzen) üblich; erst später kamen Terzen als Durchgänge etwa zwischen Quint und Einklang hinzu, Sexten als Durchgänge zu Quint und Oktave viel seltener.[49] In den drei Kyriesätzen von A-Gu Cod. 9 (» Kap. Zweistimmige Kyriesätze) ist der Gesamttonraum beider Stimmen c-e‘, trotz der unterschiedlichen Kirchentonarten (III bzw. VIII bzw. I); die Zusatzstimme verbleibt immer im gleichen Tonraum wie der Choral, was sie zu Stimmkreuzungen und Sprüngen zwingt, um möglichst oft perfekte Konsonanzen mit dem Choral zu bilden.[50] Terzen und Sexten kommen nur als Durchgänge vor, z.B. im Kyrie Magne deus bei dem Wort „liberator“ die Sexte (» Abb. Kyriesätze Neuberg, S. 2). Öfters ist die Zusatzstimme mit verzierenden Melismen ausgeschmückt, z.B. einer Abwärtsskala gegen eine Einzelnote der Choralmelodie (d‘-g gegen g; a-d gegen d). Note-gegen-Note-Satz in Gegenbewegung herrscht trotzdem vor; andererseits gibt es unisono-Fortschreitungen in gemeinsamen Melismen, z.B. in Rex virginum beim ersten „eleison“ (» Abb. Kyriesätze Neuberg, S. 3). 

Der Note-gegen-Note-Satz wird auch bei melismatischen Passagen des Chorals in vorzugsweise perfekten Konsonanzen geführt. Jedoch bei Abschnitten in Borduntechnik („Haltetonstil“) in anderen Stücken macht die Zusatzstimme freien Gebrauch von Dissonanzen über dem Choralton, einschließlich der großen Septime (» Abb. Iudea et Ierusalem bei „Iu-“). Offenbar rührt diese Freiheit daher, dass hier nur eine Stimme an der Bewegung beteiligt ist: Die Borduntechnik erlaubt der Zusatzstimme melodische Entfaltung, z.B. das Ausschreiten eines Oktavumfangs. Auch dürften Rhythmus und Tempo in diesen Melismen anders gestaltet worden sein als in den deklamierenden Abschnitten.

Die aus der gemeinsamen Benutzung desselben Tonraums folgende Tendenz zu Stimmkreuzungen wird in vielen Stücken gleichsam radikalisiert, indem festgelegte melodische Abschnitte in beiden Stimmen abwechselnd gegeneinander vorgetragen werden, was „Stimmtausch“* genannt wird. Die Stimmen spiegeln sich gleichsam gegenseitig (vgl. » A. Kap. Melodie und Klang: Vorau); eine Hälfte einer Melodie kontrapunktiert die andere. Der Lektionstropus Universi populi (» Notenbsp. Universi populi) ist eines von zahlreichen Beispielen für diese Satztechnik, die entweder ohne die Verwendung von Choralmelodien funktioniert oder von diesen nur geeignete Abschnitte exzerpiert.[51] Sie scheint die Ausführung durch zwei gleichberechtigte Sängergruppen vorauszusetzen. Die Stimmtauschtechnik war auch in den Gattungen von rondellus* und rota, d.h. Singradel (heute „Kanon“) zuhause, war also klösterlichen und weltlichen Sphären gemeinsam. 

Kontrapunkttraktate des Spätmittelalters[52] beschreiben mit ihren Konsonanztabellen und Fortschreitungsregeln eine grundsätzlich nichtmensurale Mehrstimmigkeit im Note-gegen-Note-Satz. Spezifisch didaktische Ableitungen dieses Regelsystems existierten in Italien unter der Bezeichnung „Regola del grado“ (Intervalllehre): Hier wurde pragmatisch und von Zweiklang zu Zweiklang vorgeschrieben, welche Intervallschritte die Zusatzstimme zum Choral jeweils ergreifen darf.[53] Um übermäßige oder verminderte Konsonanzen zu vermeiden, musste die Hexachordposition jeder Choralnote beachtet werden.

[49] Im Responsoriumsvers Conserva Domine (» A. Kap. Zweistimmiges Singen) gibt es viele Durchgangsterzen. Die Intervallfolge kleine Sexte-Quinte findet sich bei dem Wort „vester“ in » Abb. Jube domne – Consolamini (Anfang 2. System).

[50] Eingehende Analysen entsprechender Satztechniken bei Göllner 1961, S. 40-60.

[51] Zur Stimmtauschkomposition über eine vorgegebene Melodie vgl. Strohm 1996/1997, S. 546-549.

[52] Grundlegend ist Sachs 1974 und 1984.

[53] Scattolin 1989.