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Mensuraltraktate – Abweichungen vom klassischen System

Alexander Rausch

Ein Traktat aus Mondsee aus der Zeit um 1400 (überliefert in » A-Wn Cod. 5003, fol. 202v–204r) verwendet nicht die übliche ternäre (dreizeitige), sondern eine binäre (zweizeitige) Mensuration: Die (einem Takt entsprechende) Brevis wird in zwei gleiche Semibreven geteilt (zwei Halbe).[10] Dieser Ansatz, der für uns heute ganz selbstverständlich wäre, widerspricht jedoch dem „klassischen“ franconischen System, das von Dreizeitigkeit ausgeht (was umso merkwürdiger ist, als in derselben Quelle die bekannte Schrift des Franco von Köln zusammengefasst und ergänzt wird). So widersetzte sich dieser Text lange der Einordnung in eine linear verlaufende Geschichte der Musiktheorie, bis die neuere Forschung erkannte, dass zwischen den (zudem nicht ganz konsistenten) Aussagen des Theoretikers und der damaligen Kompositions- und Notationspraxis doch engere Verbindungen bestehen.[11] Die im Incipit genannten Gattungen Motette und Conductus werden demnach nicht zufällig erwähnt, sondern sind konkrete Hinweise auf die zentraleuropäische Rezeption dieser Genres und deren Transformationen (wie sie etwa im sogenannten Engelberger Motettenstil manifest werden). (» C. Ars antiqua und Ars nova)

Die Unterschiede zu Franco von Kölns Ars cantus mensurabilis betreffen im Einzelnen:
  • die zweizeitige Teilung der Longa und der Brevis;
  • die Notation einzelner Semibreven als quadratische Formen (und nicht wie üblich als Rhomben, daher nur verständlich im Sinne einer Kontextnotation, innerhalb derer Breven und Semibreven im musikalischen Zusammenhang zu unterscheiden sind);
  • die Ligaturenschreibung (z. B. werden zwei absteigende Breven ohne Cauda (Notenhals) geschrieben, was normalerweise für zwei Longen steht:Beispiele);
  • die Caudierung (die keine rhythmische Wertveränderung anzuzeigen scheint).

 

Insgesamt spricht vieles dafür, dass die oft pragmatische Darstellung der Mensuralnotation in diesem Text vom Umgang mit praktischen Quellen geprägt ist. Bernhold Schmid nennt » GB- Lbl Add. 27630, aus Prag oder Süddeutschland, und » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40580 [olim D-Bds Mus. ms. 40580], aus dem Wiener Minoritenkonvent, als Vergleichsquellen.[12] So steht am Beginn der Motette Ave Ihesu Christe / O premium der Londoner Handschrift (fol. 53v, Oberstimme) die Ligatur image nicht wie in der ‚korrekten‘ Lesart für Brevis-Longa, sondern für zwei Breven, entspricht also dem Grundrhythmus lang-kurz-kurz-lang dieses Stücks.

[10] Edition: Ristory 1987,  65–75.

[11] Vgl. Schmid 1998.

[12] Vgl. Schmid 1998.