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Musiktheorie als Lehrfach und Bildungsgut

Alexander Rausch

Ähnlich wie an modernen Universitäten und Fakultäten existierte auch im Mittelalter ein Lehrfach „Musikwissenschaft“, damals meistens als „ars musica“, „musica scientia“ oder einfach nur als „musica“ bezeichnet. Diese sogenannte spekulative Musiktheorie als eigenständige oder mit verwandten Disziplinen in einem Semester gelehrte Vorlesung hob sich von dem, was wir heute unter dem Fach Musiktheorie verstehen, insofern ab, als Praxisbezüge weitgehend ausgeklammert wurden. Vielmehr fügte sich die (ars) musica in den Verband der septem artes liberales ein, also jene sieben Wissenschaften/Künste, die ein freier (wirtschaftlich unabhängiger) Mann studieren musste, um einen akademischen Grad (B.A.) zu erwerben und um weitere Studien inskribieren zu können. Als Voraussetzung (Propädeutik) für Philosophie, Jus oder Theologie waren zum einen Arithmetik, Musiktheorie, Geometrie, Astronomie (das Quadrivium) und zum anderen Grammatik, Rhetorik, Dialektik (das Trivium) unabdingbar für den sozialen Aufstieg eines Studenten. Für die Musiktheorie waren als Lehrtexte Boethius (De institutione musica) und seit dem 14. Jahrhundert auch Johannes de Muris (Musica) vorgesehen.

Als Bildungsgut ist die Musiklehre allerdings in einem weiteren – über den Universitätsbetrieb hinausgehenden – Zusammenhang zu betrachten. So machten die Schüler, die Lesen und Schreiben, die Psalmen oder den Kalender erlernten, zumindest rudimentär mit spekulativer Musiktheorie Bekanntschaft (z. B. mit den Proportionen als Basis der Intervallehre), was die Einleitungen zahlreicher Lehrschriften dokumentieren. Das Einüben in die Praxis (das Psalmensingen als Grundlage der Liturgie) war naturgemäß dem mündlichen Unterricht, in Klöstern der Unterweisung durch einen Gesangmeister, vorbehalten. Aber auch in diesem Bereich hat sich sehr früh (im Grunde genommen seit der Musica enchiriadis aus dem 9. Jahrhundert) eine Tendenz zur Verschriftlichung durchgesetzt, die von der Dynamik der Notenschrift befördert wurde. Die Notenbeispiele in den Traktaten – sowohl der mehrstimmigen wie der einstimmigen Musik – stellen einen wesentlichen Teil des Fachschrifttums dar.

[1] Für einen Überblick, der auch einige Beziehungen zur Musiktheorie impliziert, vgl. Ward 2001.

[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).