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Grundlagen und Elementarlehren

Alexander Rausch

Die Grundlagen für die korrekte Ausführung des Gregorianischen Chorals – Tonsystem, Intervalle, Hexachord- und Mutationslehre, eventuell Regeln zur Psalmodie mit Tonar – wurden in zahlreichen Elementarlehren dargelegt, die sich oft nur in Details voneinander unterscheiden. Aus einem umfangreichen Traktat (» A-Wn Cod. 12811), der auf etwa 1480 datiert werden kann und aus der Kartause Gaming (Niederösterreich) stammt[3], sollen einige Punkte herausgegriffen werden, die eine regionale Einordnung ermöglichen.

Die hier zu beobachtende Rezeption der klassischen Autoritäten wie Boethius, (Pseudo-)Odo, Guido d’Arezzo, Bern (Berno) und Hermann von Reichenau oder Johannes Cotto ist für Lehrtexte des Spätmittelalters in der Region Österreich typisch. Dass die Autoren des 11. Jahrhunderts trotz der relativ großen zeitlichen Differenz noch gelesen und in Einzelheiten aktualisiert werden, trifft besonders auf den süddeutsch-österreichischen Raum zu. Dabei wurden Tonsystem sowie Anzahl und Bewertung der melodischen Konsonanzen ergänzt bzw. teilweise neu definiert: Die meist übliche Beschränkung auf neun Konsonanzen vom Unisonus bis zur Oktave wird im Gaminger Traktat durch Einführung von vier modi inusitati (ungebräuchliche Intervalle), d. h. Tritonus, kleine Sext und beide Septimen, aufgegeben. Einerseits tragen diese und analoge Erweiterungen des Ton- und Intervallvorrats den neukomponierten Reimoffizien des postgregorianischen Repertoires Rechnung, in denen solche Intervallschritte häufiger vorkommen, andererseits macht sich der Einfluss der Kontrapunktlehren bemerkbar. Was die Darstellung des Tonsystems betrifft, fällt eine subtile Abweichung bei der Verdopplung der Tonbuchstaben auf: hier beginnt die Reihe der duplicate seu geminate (verdoppelten bzw. Zwillingsbuchstaben) bereits beim ee statt wie gewöhnlich beim aa, was ebenfalls für Traktate süddeutscher Provenienz charakteristisch ist.[4] Abgerundet wird die Chorallehre mit einem Tonar, der allerdings keine kartäusische Prägung aufweist, sondern eher benediktinisch ist (wenn man überhaupt eine Klassifikation nach bestimmten Orden, die im ausgehenden Mittelalter nicht mehr so eindeutig ist, vornehmen will). Die Auswahl der Gesangsincipits und das System der Differenzen lassen keine spezifischen Merkmale erkennen, so dass auch für diesen Teil die allgemeine Lokalisierung in den süddeutsch-österreichischen Raum zutrifft. Aus vielen anderen österreichischen Klöstern sind Elementarlehren bekannt, von Darstellungen Guidonischer Hände bis hin zu Kommentaren über die Musica (speculativa) des Johannes de Muris.

Stellvertretend für weitere Tonare sei jener der Melker Reform[5] genannt (zur Melker Reform siehe » A. Melker Reform), der vermutlich ein wichtiges Produkt dieser Erneuerungsbewegung darstellte (aber von der Forschung noch nicht hinreichend aufgearbeitet wurde). Die Quellen stammen aus Melk selbst (» A-M Cod. 866, » A-M Cod. 950 und » A-M Cod. 1099), Salzburg (die früheste, » A-Ssp Cod. b.I.30, aus dem Jahr 1431), Michaelbeuern (Codex » A-MB Man. cart. 1 und Codex » A-MB Man. cart. 86) und Lambach (» A-KR CC 246a) sowie aus Bayern (v. a. Augsburg und Tegernsee). Die Psalmtöne und die dazugehörigen Antiphonen des Stundengebets werden nach den neu eingeführten bzw. von Subiaco übernommenen Melodien gesungen. Wie ein Kommentar in A-M Cod. 950 (fol. 188v) verrät, war die neue Gesangsart durchaus umstritten, sowohl in formaler als auch ästhetischer Hinsicht: Die üblichen Melodien werden dort als „elegantiores“ bezeichnet.

[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]

[4] Berktold 1997.

[5] Vgl. Angerer 1979.