Grundlagen und Elementarlehren
Die Grundlagen für die korrekte Ausführung des Gregorianischen Chorals – Tonsystem, Intervalle, Hexachord- und Mutationslehre, eventuell Regeln zur Psalmodie mit Tonar – wurden in zahlreichen Elementarlehren dargelegt, die sich oft nur in Details voneinander unterscheiden. Aus einem umfangreichen Traktat (» A-Wn Cod. 12811), der auf etwa 1480 datiert werden kann und aus der Kartause Gaming (Niederösterreich) stammt[3], sollen einige Punkte herausgegriffen werden, die eine regionale Einordnung ermöglichen.
Die hier zu beobachtende Rezeption der klassischen Autoritäten wie Boethius, (Pseudo-)Odo, Guido d’Arezzo, Bern (Berno) und Hermann von Reichenau oder Johannes Cotto ist für Lehrtexte des Spätmittelalters in der Region Österreich typisch. Dass die Autoren des 11. Jahrhunderts trotz der relativ großen zeitlichen Differenz noch gelesen und in Einzelheiten aktualisiert werden, trifft besonders auf den süddeutsch-österreichischen Raum zu. Dabei wurden Tonsystem sowie Anzahl und Bewertung der melodischen Konsonanzen ergänzt bzw. teilweise neu definiert: Die meist übliche Beschränkung auf neun Konsonanzen vom Unisonus bis zur Oktave wird im Gaminger Traktat durch Einführung von vier modi inusitati (ungebräuchliche Intervalle), d. h. Tritonus, kleine Sext und beide Septimen, aufgegeben. Einerseits tragen diese und analoge Erweiterungen des Ton- und Intervallvorrats den neukomponierten Reimoffizien des postgregorianischen Repertoires Rechnung, in denen solche Intervallschritte häufiger vorkommen, andererseits macht sich der Einfluss der Kontrapunktlehren bemerkbar. Was die Darstellung des Tonsystems betrifft, fällt eine subtile Abweichung bei der Verdopplung der Tonbuchstaben auf: hier beginnt die Reihe der duplicate seu geminate (verdoppelten bzw. Zwillingsbuchstaben) bereits beim ee statt wie gewöhnlich beim aa, was ebenfalls für Traktate süddeutscher Provenienz charakteristisch ist.[4] Abgerundet wird die Chorallehre mit einem Tonar, der allerdings keine kartäusische Prägung aufweist, sondern eher benediktinisch ist (wenn man überhaupt eine Klassifikation nach bestimmten Orden, die im ausgehenden Mittelalter nicht mehr so eindeutig ist, vornehmen will). Die Auswahl der Gesangsincipits und das System der Differenzen lassen keine spezifischen Merkmale erkennen, so dass auch für diesen Teil die allgemeine Lokalisierung in den süddeutsch-österreichischen Raum zutrifft. Aus vielen anderen österreichischen Klöstern sind Elementarlehren bekannt, von Darstellungen Guidonischer Hände bis hin zu Kommentaren über die Musica (speculativa) des Johannes de Muris.
Stellvertretend für weitere Tonare sei jener der Melker Reform[5] genannt (zur Melker Reform siehe » A. Melker Reform), der vermutlich ein wichtiges Produkt dieser Erneuerungsbewegung darstellte (aber von der Forschung noch nicht hinreichend aufgearbeitet wurde). Die Quellen stammen aus Melk selbst (» A-M Cod. 866, » A-M Cod. 950 und » A-M Cod. 1099), Salzburg (die früheste, » A-Ssp Cod. b.I.30, aus dem Jahr 1431), Michaelbeuern (Codex » A-MB Man. cart. 1 und Codex » A-MB Man. cart. 86) und Lambach (» A-KR CC 246a) sowie aus Bayern (v. a. Augsburg und Tegernsee). Die Psalmtöne und die dazugehörigen Antiphonen des Stundengebets werden nach den neu eingeführten bzw. von Subiaco übernommenen Melodien gesungen. Wie ein Kommentar in A-M Cod. 950 (fol. 188v) verrät, war die neue Gesangsart durchaus umstritten, sowohl in formaler als auch ästhetischer Hinsicht: Die üblichen Melodien werden dort als „elegantiores“ bezeichnet.
[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]
[5] Vgl. Angerer 1979.
[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).
[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]
[5] Vgl. Angerer 1979.
[6] Vgl. Flotzinger 2002 (mit Übertragung der drei zweistimmigen Motetten).
[7] Zu den Versionen in Michaelbeuern und Melk siehe auch Welker 2005, 75f.
[8] Aktuelle Edition: Rausch 2001a, 287 (Verse 77ff).
[9] So z. B. im „Melker Anonymus“, ed. in Gallo 1971, 15. Ähnlich auch im Breslauer Mensuraltraktat (ed. in Wolf [1918–19]).
[10] Edition: Ristory 1987, 65–75.
[11] Vgl. Schmid 1998.
[12] Vgl. Schmid 1998.
[13] Siehe Welker 2005.
[15] Für den Terminus „cantus acquisitus“ kennt das Lexicon musicum Latinum medii aevi, hrsg. von Michael Bernhard, München 2006, Bd. 1 (A–D), 381, nur diesen einen Beleg.
[17] Vgl. Strohm 1993, 122–124.
[18] Vgl. Witkowska-Zaremba 1998.
[19] Mit dem Terminus „viroletum“ konnte der Kopist nichts anfangen, an der Stelle befindet sich eine Lücke.
[20] Edition: Ristory1987
[21] Vgl. Bent 2007, 68–70, und Strohm 1993, 108–111.
[22] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 167–172.
[23] Vgl. Meyer 2001. Auszüge aus der Handschrift A-Iu Cod. 962 wurden von Christian Meyer in seinem Aufsatz transkribiert. Das altfranzösische Proportionskapitel bei Federhofer-Königs 1969. Vgl. Strohm 1993, 292.
[24] Datenbank Repertorium Academicum Germanicum der Universitäten Bern und Gießen, URL: http://www.rag-online.org/index.php/de/datenbank/abfrage.html [02.09.2013].
[25] Heute in der Warschauer Nationalbibliothek: PL-Wn Cod. BOZ 61. Edition: Witkowska-Zaremba 2001.
[26] Vgl. Rauter 1989, Kap. VI, 86. Im Art. „Gurk“ von Walburga Litschauer, in: Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 2, Wien 2003, 645 (URL: http://www.musiklexikon.ac.at [14.04.2014]) wird der Traktat nicht genannt. Der Text wird aber schon von Gruber 1995, 171 (Anm. 2 auf 209) erwähnt.
[27] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 122.
[28] Vgl. Rauter 1989, Kap. II, 49–62; vgl. die Übersicht, 43.
[30] Rauter 1989, 49 f. und 53.
[31] Dazu Schmid 1995.
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Rausch: „Spekulative Musiktheorie und Chorallehre“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/spekulative-musiktheorie-und-chorallehre> (2016).