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Zweistimmige Kyriesätze

Reinhard Strohm

Zweistimmige Kyriesätze – tropiert und untropiert – sind in der Region, wie in ganz Europa, eine der häufigsten Gattungen nichtmensuraler Mehrstimmigkeit. Sie haben oft die einfachst mögliche Faktur (Note-gegen-Note-Satz). Das Kyrie eleison mit seinen neun Anrufungen (von denen meist nur drei notiert sind) wurde gern alternierend zwischen Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit ausgeführt, wobei die Zusatzstimmen der mehrstimmigen Abschnitte Solisten anvertraut sein konnten. Da die Satztechnik der überlieferten Stücke jedoch die beiden Stimmen technisch fast gleich behandelt, ist auch an rein chorische Ausführung zu denken, wobei sich der Chor bei den zweistimmigen Anrufungen in zwei Gruppen teilte.[23]

Im Graduale » A-Gu Cod. 9 (frühes 15. Jahrhundert) aus dem Zisterzienserkloster Neuberg an der Mürz (Steiermark), sind auf fol. 167r-168v drei tropierte zweistimmige Kyriesätze aufgezeichnet.

Die Kyrie Magne deus potencie [24] (fol. 167v-168r) und Rex virginum amator (fol. 168r-168v) haben nur je einen Text, der der unteren Stimme des Systems unterlegt ist; die originale Choralmelodie liegt in der oben notierten Stimme und hat lediglich die Initiale „K“ (für Kyrie) bzw. „X“ (für Christe). Bei „Rex virginum“, wo der Tropustext ohne das Wort „Kyrie“, also mit „R“ beginnt (Abb. S. 3), hat die Choralstimme trotzdem eine „K“-Initiale: Es war also gemeint, dass einige Sänger den herkömmlichen Kyrie-Text vortragen sollten, während gleichzeitig andere die durchtextierte Tropusstimme „Rex virginum“ sangen.[25] Die Wortunterlegung der textierten Stimmen ist präzise festgelegt, unter anderem durch die Ligaturschreibung und durch vertikale Abteilungsstriche zum Zweck der Worttrennung – eine Sorgfalt, die besonders für den Zisterzienserchoral charakteristisch war.

Das erste Kyrie (Abb. S. 1-2) hat zwei verschiedene Texte. Kyrie fons bonitatis ist der Stammtext (der übliche Tropustext) zu dieser Choralmelodie, Kyrie divinitatis amator die Alternative. Jedoch ist der Alternativtext der originalen Choralmelodie unterlegt, der Stammtext der Zusatzstimme. Die Stimmen passen nicht nur intervallisch zusammen, sondern auch im Textvortrag, mit genau abgezählten, gleichen Silbenzahlen in jeder Zeile. Nur manchmal ergibt sich die Worttrennung nicht an derselben Stelle, so dass der Abteilungsstrich ein Wort des Alternativtextes durchschneidet (z.B. bei „amator inclite“, Abb. S. 1). Es ist zu schließen, dass der Alternativtext als neuer Tropus dem schon bestehenden zweistimmigen Satz in Neutextierung unterlegt wurde.[26] Er erwähnt zwar einmal „Maria“, scheint aber sonst dem liturgischen Status von Kyrie fons bonitatis zu entsprechen, der in der Konkordanzhandschrift » A-Gu Cod. 10, fol. 178r, als „in summis festivitatibus“ (an höchsten Festen) bestimmt wird.[27] Sollte man annehmen, dass beide Texte zusammen erklangen, wie eine Art von Simultantropus, oder wurde jeweils nur ein Tropustext gesungen, während die andere Stimme das originale melismatische „Kyrie“ vortrug?

[23] Zur Frage der chorischen Mehrstimmigkeit vgl. u.a. Geering 1952, S. 51.

[24] Das zweistimmige Kyrie Magne Deus ist in vielen Quellen überliefert. Eine Version in » A-Ssp Cod. a.VII.20 ist abgebildet und besprochen bei Stenzl 2005, S. 55-58. Eine Einführung in die Neuberger Quelle und Besprechung der Stücke bietet Federhofer 1948, 20-25.

[25] Tropustexte wie diese, die durch Austextierung der Choralmelodie entstanden, werden auch prosulae oder „melogene Tropen“ genannt. Vgl. Ritva Jacobsson, Le style des prosules de l’Alleluia, genre mélogène, in: Corsi-Petrobelli 1989, S. 367-376.

[26] Für diesen Text ist keine andere Quelle bekannt. Er entstand wahrscheinlich als Paraphrase der bekannteren prosula Kyrie virginitatis amator.

[27] » A-Gu Cod. 10 ist ein von derselben Hand geschriebenes Graduale aus Neuberg mit fast demselben Inhalt. Es enthält nur dieses zweistimmige Kyrie, während die beiden folgenden fehlen: nach RISM BIV3, S. 74, aufgrund einer ausgeschnittenen Seite (?).