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Kontexte der Überlieferung

Reinhard Strohm

Die Aufzeichnungen nichtmensuraler Mehrstimmigkeit in den Quellen der österreichischen Region stammen überwiegend von musikalisch geschulten Schreibern und sind in musikalischen Zusammenhängen überliefert.[71] Nicht sicher feststellbar ist dies, wenn sie nur als Fragmente erhalten sind (z.B. als Vor- oder Nachsatzblätter in Buchdeckeln), wie in » I-MAVXVII 2o 28, » A-WIL Cod. IX 40 und » A-Wn Cod. S.n. 13970 (früher Cod. 3997). Die drei Fragmente » A-Ssp a.IV.7, » A-Ssp a.VI.47 und » A-Ssp a.XII.25 fr.31 gehörten sicher zu einer einzigen Musikhandschrift (hier „Salzburger Kantorenbuch“ genannt, vgl. » Kap. Notationsweisen klösterlicher Mehrstimmigkeit). Auch das Fragment A-Wn Cod. S.n. 228 (» Kap. Mehrstimmige Soloabschnitte) war einst Teil einer größeren Musiksammlung. Nur die Musikaufzeichnungen in » A-GO Cod. 79, » A-Wn Cod. 4989 und » A-Wn Cod. 3617 dürften in außermusikalischer Umgebung notiert worden sein, als Nachträge bzw. Seitenfüller. Der Musikfaszikel von » A-GO Cod. 307 wurde einer nichtmusikalischen Sammelhandschrift mit Traktaten beigebunden. In den anderen Fällen sind die Kontexte der Aufzeichnung musikalisch. Sie sind jedoch von verschiedener Art. Mindestens elf der Trägerhandschriften sind Choralbücher: Gradualien, Antiphonalien, Sequentiare und Prozessionare. Dort stehen die mehrstimmigen Sätze manchmal isoliert und nicht unbedingt an der liturgischen Stelle ihrer Aufführungen – jedoch waren sie in der Hand der für den Chor zuständigen Kantoren und sicher zur liturgischen Aufführung bestimmt. In den beiden Antiphonalien A-Gu Cod. 29 und A-Gu Cod. 30 (Benediktinerstift St. Lambrecht) bilden nicht weniger als 31 Lektionsvertonungen, Responsorien und Hymnen relativ umfangreiche Einlagen von Mehrstimmigkeit innerhalb der Jahresliturgie.[72] Anderswo jedoch stehen wenige Stücke zusammen mit Musiktraktaten, denen sie wie Anschauungsbeispiele dienen konnten (» A-Wn Cod. 2339; » A-Wn Cod. 4702, » A-M Cod. 950, und vermutlich A-SPL, Stiftsbibliothek St. Paul/Kärnten). Schließlich gibt es drei größere Sammlungen, die besondere und z.T. mehrstimmige Gesänge ohne zwingenden rituellen Status separat überliefern: » A-Gu Cod. 756, der Liber cantionarius aus dem Stift Seckau, zum Ordinale derselben Kirche von 1345 gehörend, jedoch vom alltäglichen Ritus abgesondert (130 Gesänge, meist Tropen, davon nur fünf mehrstimmige)[73]; A-Iu Cod. 457, fol. 72r-107v, ebenfalls eine Art „Cantionarius“ (Singbuch) für besondere Gelegenheiten (mit 69 Stücken, wovon 17 mehrstimmig); A-Wn Cod. 5094, mit Musik verschiedenster Art zur Hand von Organisten im Kirchen- oder Klosterdienst (» K. A-Wn Cod. 5094: Souvenirs). Das besondere persönliche Interesse von Musikern wird deutlich in wertenden Bezeichnungen wie „Benedicamus pulchrum“ (ein schönes Benedicamus) für Einzelstücke in A-Gu Cod. 756 (» A. Kap. Zum Verwendungszweck des Seckauer Cantionarius).

Wie erwähnt, wurde klösterliche Mehrstimmigkeit auch in weltkirchlichen Institutionen gepflegt, so wahrscheinlich an der Universität Wien (A-Wn Cod. 4702, A-M Cod. 950?) und nachweislich (obwohl selten) in der Passauer Diözesanliturgie, z.B. an St Stephan in Wien.[74]

Solche Kontexte charakterisieren auch die Quellen der angrenzenden Regionen Slovenien (Krain), Bayern, Böhmen und Schweiz. Überlieferung innerhalb regulärer Choralbücher wiegt vor (manchmal als eigene Gruppe, z.B. in » D-Mu Hs. 2°156 und »  CZ-VB 42), doch gibt es auch große Sammlungen besonderer und mehrstimmiger Stücke, mehr oder weniger separat gestellt (z.B. » D-Mbs Clm 5539, GB-Lbl add. 27630, CH-EN 314) und kleine Anthologien verbunden mit Traktaten, sowie Fragmente. Das Modell des Tropars – einer Spezialhandschrift zur Hand eines Chorleiters – wirkte jedenfalls nach, wobei Mehrstimmigkeit ihren Anteil in der Tropenfamilie mit der Zeit vergrößerte.[75]

[71] Die folgenden Ausführungen sind orientiert an den Quellenverzeichnissen bei Flotzinger 1989 und in RISM BIV/2 bzw. BIV/3-4.

[72] Die Verdopplung der Codices, ähnlich auch bei » A-Gu Cod. 9 und 10, deutet auf direkte Verwendung im antiphonalen Chorgesang.

[73] Vgl. » A. Kap. Zum Verwendungszweck des Seckauer Cantionarius.

[74] Die Sequenz Laudes salvatori wurde hier manchmal im “discantus” gesungen: vgl. »  E. Kap. Tropen und andere Randerscheinungen.

[75] Vgl. die Auflistung vieler dieser Quellen als “Troparia tardiva” bei Haug 1995.