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A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu“

Reinhard Strohm
  • Eine kontrastreiche Musiksammlung

    Der musikalische Anhang von »  Codex 5094 der Österreichischen Nationalbibliothek (» Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“?) ist aus Beiträgen verschiedener Art und Herkunft zusammengestellt. 12 oder 13 beteiligte Kopisten notierten einstimmige und mehrstimmige Gesänge, dazu Musik für Instrumente in Partitur, Buchstabennotation und Orgeltabulatur. Liturgische Choralmelodien sind rhythmisiert aufgezeichnet. >Strichnotation< und >Notenwertpunkte< ermöglichen „absolute Lesbarkeit“ der Notation für Musiker, die mit den Regeln der westeuropäischen Mensuralnotation unvertraut sind (» C. Organisten und Kopisten). Der Inhalt dieser Blätter ist kirchlich und weltlich, vokal und instrumental gemischt. Er verteilt sich auf die Kopisten wie folgt:

    (Abkürzungen: C = Cantus, T = Tenor, Ct = Contratenor; MN = Mensuralnotation (voll oder hohl), CN = Choral­notation, SN = Strichnotation (voll oder hohl), OT = (ältere deutsche) Orgeltabulatur, BN = Buchstabennotation; frg. = Fragment(e); Schlüssel: c1, c3, f3, f4, usw.)

    Kopist A
    fol. 148v (Blatt umgewendet eingebunden, voriges Blatt verloren): 3st. Skack sive celsito[nanti] (= Froleich geschrai, Oswald von Wolkenstein), nur Ct f3 und T f3 (MN voll); Virginem mire (= En discort, anon. Ballade), frg. T f3 (MN voll); 3st. Ave maris stella = 155v (MN voll).
    fol. 155v unten (horizontal beschrieben): 3st. Ave maris stella = 148v (frg. SN hohl, auf 9-Liniensystem) und zweimal in BN (2. Mal frg.).
    Kopist A (kleine Schrift)
    fol. 149r-v, 152r-v: 1st. Sequenzen für Dorothea, Katharina, Maria, Michael, Ulrich (adaptiert für Wolfgang und Rupert), Kirchweih, Ostern (CN).
    Kopist B (Wolfgang Chranekker)
    fol. 148av (Blatt auf dem Kopf stehend eingebunden): 3st. textlos (=Ce jour le doibt, Du Fay) (MN hohl und voll, in Partitur auf 2 Systemen).
    Kopist C
    fol. 150r: 2st. textloses frg., vielleicht Entwurf zum Salve regina 150v (SN voll).
    fol. 150v: 3st. Salve regina, nur C c2, Ct c5 (SN voll). Folgeblatt verloren.
    Kopist D
    fol. 151r, 157v: Federproben (CN quadratisch).
    Kopist E (oder A?)
    fol. 151v: 1st. Gloria Primogenitus Marie (CN, >cantus fractus<), zwei Kyries, frg. Sanctus (CN). Folgeblatt verloren.
    Kopist F
    fol. 153r: 1st. Introitus In Nicolai transitu, Alleluia Stabit Nicolaus (CN quadratisch).
    Kopist G
    fol. 154r-155r (horizontal beschriftet): 4st. Segnier Leon / Benedictus qui venit (Du Fay 1442) (SN hohl).
    fol. 155v (horizontal beschriftet; andere Texthand?): 3st. Ave maris stella = fol. 148v (SN hohl); fol. 155v unten: s. Kopist A.
    Kopist H
    fol. 157r: 1st. Sanctus-Agnus Dei (CN, >cantus fractus<), Ende unvollständig.
    Kopist I
    fol. 158r-v (umgewendet eingebunden): 3st. textloser „rundelus“ (=Apollinis eclipsatur, B. de Cluny, Ars Nova-Motette) (OT).
    Kopist J
    fol. 159r, 160r-v, 161r-v (Anfang 160r, voriges Blatt verloren): 1st. Choräle für Barbara and Maria (CN).
    Kopist K
    fol. 162r-v (umgewendet eingebunden): zwei 1st. Credo, eines davon frg. (MN voll, >Notenwertpunkte<).
    Kopist L
    fol. 163r (voriges Blatt verloren): 1st. frg. O Maria pya (= Ju ich jag, Mönch von Salzburg), (MN voll).
    fol. 163v: 2st. frg. Credo, Melodie = fol. 162r (MN voll, >Notenwertpunkte<). Folgeblatt verloren.
    Kopist M
    fol. 164r: 2st. Vivat nobilis prosapie, anon. Motette (MN hohl).
    fol. 164v: a) frg. textloser Entwurf eines Cantus [c1?]; b) 2st. textloses Stück (f3, f3) (MN hohl).
    Seiten ohne Notation:
    fol. 148r, 148ar, 151r (“Historia de Sancto Livino episcopo et martire”, Federproben), 153v, 154r, 157v (liturgischer Text, musikalische Federproben), 159v. Fol.156r-v gehört zum Hauptcodex (fol. 1-147).

     

    Die moderne Foliierung der Musikblätter geht von fol. 148 bis fol. 164; es gibt ein zusätzliches fol. 148a. Von diesen 18 Blättern gehört fol. 156 jedoch nicht zum Musikanhang, sondern zum Hauptteil des Codex selbst (gleiche Kopistenhand wie fol. 1-3). Soweit die steife Bindung erkennen lässt, gibt es zwei Doppelblätter (fol. 145-155, fol. 160-161), ansonsten nur Einzelblätter. Zwölf Papiertypen kommen vor (sichtbare Wasserzeichen sind Amboss, Waage, Hirsch, Dreiberg, Ochsenkopf), die auf die 1440er Jahre datierbar scheinen. Die Blätter messen maximal 31x22 cm, was dem Hauptteil von Cod. 5094 entspricht, sind aber manchmal stärker beschnitten und gefaltet, oft auch falsch eingebunden: Sie wurden nicht ursprünglich für diesen Codex hergestellt. Die variable Liniierung, Beschriftung und Faltung deutet auf verschiedene Zweckbestimmung der betreffenden Blätter (»Abb. Papiere und Beschriftungen in A-Wn, Cod. 5094). Einige Stücke sind unvollständig, weil Blätter verlorengegangen sind (vielleicht erst beim Binden); nichts scheint jedoch gewaltsam entfernt oder beschädigt worden zu sein.

     

    Es gibt interne Zusammenhänge in dieser kontrastreichen Sammlung. Kopist A, der anscheinend Verantwortung für mehrere Teile der Sammlung trägt, schreibt volle Mensuralnotation (fol. 148v, »Abb. Ave maris stella) und – in kleinerer Schrift – einstimmigen Choral (fol. 149v-152v, » Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094). Kopist G wiederholt das dreistimmige Ave maris stella von Kopist A auf fol. 155v in hohler Strichnotation. Kopist A wiederum setzt darunter z.T. unvollständige oder experimentelle Transkriptionen desselben Ave maris stella in Strich- und Buchstabennotation (» Abb. Ave maris stella I, anders notiert).[2]

    Auch andere Schreiber scheinen zu experimentieren. Dem in voller Strichnotation aufgezeichneten Salve regina auf fol. 150v geht auf fol. 150r ein zweistimmiger Kompositionsentwurf ohne Tenor voraus (Kopist C); die voll ausgeführte Fassung des Stücks auf fol. 150v besteht nur aus Cantus und Contratenor – die Folgeseite mit dem Tenor fehlt. Kopist M lässt der Komposition auf fol. 164r zwei andere Entwürfe auf fol. 164v folgen.

    Kopist B ist Wolfgang Chranekker, belegt als Organist in St. Wolfgang am Abersee (Wolfgangsee) im Jahre 1441.[3] Da er um 1441 für Hermann Pötzlinger den jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex notiert hat, dürfte er damals auch in Wien tätig gewesen sein (» C. Organisten und Kopisten). Auf fol. 148av schreibt er Guillaume Du Fays Ballade Ce jour le doibt in Partitur auf zwei Systemen wie für ein Tasteninstrument – ähnlich der sogenannten „älteren italienischen Orgeltabulatur“ –, jedoch unbearbeitet (» Abb. Ce jour le doibt). Die Unterscheidung der auf demselben System eingezeichneten Stimmen Tenor und Contratenor durch hohle bzw. volle Noten ist aus der liturgischen Mehrstimmigkeit bekannt.[4] Insgesamt ein Drittel der Sammlung ist speziellen Notationsarten und offenbar instrumentaler Musik gewidmet, sei es für die Orgel oder andere Tasteninstrumente. Die Mehrzahl der Musikstücke gehört jedoch zur Gattung des liturgischen Chorals.

  • Praktische Nutzung der Musik von Cod. 5094

    Frederick Crane (1965) und Theodor Göllner (1967) erkannten das Problem der scheinbaren Uneinheitlichkeit dieser Musiksammlung.[5] Crane untersuchte aber nur die Stücke in „keyboard notation“. Göllner identifizierte mit seinem Aufsatztitel Notationsfragmente aus einer Organistenwerkstatt eine bestimmte gemeinsame Nutzungsart. Was war jedoch eine „Organistenwerkstatt” im 15. Jahrhundert? War es die Orgelempore einer Kirche? Und was genau passierte dort? Auf dem Spielpult einer Orgel lassen sich besonders die horizontal beschrifteten Blätter gut auflegen. Doch die vier Stimmen des Segnier Leon (in Strichnotation) hätte man nur dann gleichzeitig abspielen können, wenn man das Doppelblatt fol. 154-155 am Falz zertrennt und die beiden Hälften auf dem Pult nebeneinander aufgelegt hätte: Denn die beiden Blätter sind in entgegengesetzter Orientierung beschriftet. Die mehrfache Aufzeichnung des Offiziumshymnus Ave maris stella in Mensuralnotation, Strichnotation, 9-Liniensystem und Buchstabennotation scheint eher Studienzwecken zu dienen als einer liturgischen Aufführung.[6] Viele Blätter waren vor dem Einbinden in den jetzigen Band gefaltet, einige mehrfach. Dies bedeutet unter damaligen Verhältnissen, dass die Blätter transportiert und vielleicht als Brief verschickt wurden.

    Wir wissen, dass Organisten einstimmige Choräle spielten, u. a. um den Chor zu begleiten. Neun der siebzehn Musikblätter von Cod. 5094 enthalten einstimmige Choräle. Dabei verwendet Kopist A eine fast diminutive Schriftgröße, die eine Sängergruppe von etwa 4-8 Personen kaum ablesen könnte (»Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094). Der Organist konnte sie jedoch im Gottesdienst von dieser Aufzeichnung abspielen: Bei der Sequenz Psallat concors symphonia spielte er nur alternierende Verse, während der Chor aus einer anderen Niederschrift oder auswendig sang.

     

    Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094 / Fig. Chant notation for organ in Cod. 5094

    Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094

    Kopist A, fol. 149r. Sogenannte „Metzer“ Notation. „Sequitur melodia super sequencia psallat concors de sancta Dorothea” (Es folgt eine Melodie über die Sequenz Psallat concors von der Hl. Dorothea). © Österreichische Nationalbibliothek. / Copyist A, fol. 149r. So-called „Messine notation“. „Sequitur melodia super sequencia psallat concors de sancta Dorothea” (There follows a melody over the sequence Psallat concors of St Dorothy). © Österreichische Nationalbibliothek.

     

    Den Versabschnitten der Sequenz sind nur Anfangsworte unterlegt; geradzahlige Verse sind auch in Noten nicht ausgeschrieben, da sie vom Chor allein gesungen werden. Diese alternierende Ausführung zwischen Chor mit Orgelbegleitung und Chor allein ist nur bei dieser Sequenz angedeutet, nicht bei dem folgenden Sanctus und anderen Stücken.

    Einige Choralmelodien sind in Formen nicht-mensuraler (klösterlicher) Mehrstimmigkeit gesetzt oder als >cantus fractus< rhythmisch aufgezeichnet. Für diese Sonderformen des ausgeschmückten Chorals brauchte man außer der Orgel vielleicht geübtere Sänger. Allerdings zeigen die von drei Kopisten (A, C und G) verwendeten Strichnotationen und die Notenwertpunkte bei Kopist K, dass von solchen Sängern die Beherrschung westeuropäischer Mensuralnotation nicht unbedingt erwartet wurde.

    Die sieben vorhandenen weltlichen Stücke sind entweder textlos (Ce jour le doibt, Apollinis eclipsatur), oder sie haben lateinischen Text oder nur kurze Textmarken. Bei Du Fays Segnier Leon (» Hörbsp. ♫ Seigneur Leon) sind das französische Textincipit und das lateinische des Tenors (Benedictus qui venit) erhalten geblieben. Drei Stücke sind lateinische geistliche Kontrafakte weltlicher Vorlagen, wobei Oswald von Wolkensteins Froleich geschrai (» Hörbsp. ♫ Skak – Frölich geschrai) und des Mönchs von Salzburg Ju ich jag ihrerseits auf französische Originale zurückgehen. Der unterlegte lateinische Text von Vivat nobilis prosapie (fol. 164r) ist getilgt.

  • Regionale Herkunft der Musik von Cod. 5094

    Die Konkordanzen und liturgischen Bestimmungen deuten mehrheitlich auf eine Herkunft aus der Region Österreich. Die als ‚rundelus‘ bezeichnete textlose Motette Apollinis eclipsatur, von der hier nur zwei Stimmen intavoliert sind, steht auch in Cod. 922 der ÖNB (» A-Wn Cod. 922, fol. 2r), einem Fragment der Zeit um 1400.[7] Virginem mire pulchritudinis, ein Kontrafakt der Ballade En discort, war in der Region gut bekannt, u. a. bei Organisten und Musiktheoretikern; es wird erwähnt vom „Melker Anonymus” (» A-M Cod. 950, datiert 1462; » Kap. Mensuraltheorie – didaktische Aufbereitung).

    Die jüngste datierbare Komposition ist Du Fays Seigneur Leon, entstanden wahrscheinlich 1442 in Ferrara.[8] Das Fragment …solem qui te rexit auf fol. 163r wurde von Michael Shields als Teil des Liedes O pia Maria des Mönchs von Salzburg identifiziert;[9] es ist ein Kontrafaktum seines Singradels Ju, ich jag (um 1400), das seinerseits eine Bearbeitung und Kontrafaktur der chace Umblement vos pris merchi war.[10] Oswald von Wolkensteins Froleich geschrai, kontrafiziert mit einem lateinischen Lobgesang Celsitonanti,[11] trägt die Textmarke Skack sive celsito[nanti] („Skack oder Celsitonanti“), was auf das Instrument „Schachtpret“ (exchiquier) verweist. Das Wort „Skak“ ziert u. a. die Initiale von Oswalds Froleich geschrai in seiner Liederhandschrift A (fol. 21v), die 1447 Herzog Albrecht VI. von Österreich gehörte.[12] Das Interesse der Kopisten A und G an dem dreistimmigen Hymnus Ave maris stella entspricht der mehrfachen Niederschrift dreistimmiger Fassungen desselben Hymnus im St.-Emmeram-Codex, wahrscheinlich im Kontext von Kompositionsstudien (» C. Kompositorische Lernprozesse).

    Alle hier aufgezeichneten Choralgesänge sind in süddeutsch-österreichischen Diözesanriten vorhanden. Die Sequenz Psallat concors symphonia für St. Dorothea könnte speziell auf die Diözese Passau bzw. auf Wien deuten. Die Sequenz Gloriosa fulget dies hat hier eine Textfassung für St. Udalricus (Ulrich) von Augsburg: Doch Kopist A adaptierte den Text auch für Passau (patavia) und für die Hl. Wolfgang von Regensburg und Rupert von Salzburg sowie vielleicht Valentin von Passau: » Abb. Sequenz Gloriosa fulget dies a); Abb. Sequenz Gloriosa fulget dies b). Zur Passauer Diözese gehörte damals der Wallfahrtsort St. Wolfgang am Aberseee (= Wolfgangsee), wo Chranekker Organist war.

     

     

     
    Nach A-Wn Cod. 5094, fol. 152r. Textbezüge auf Diözesen und Diözesanheilige wurden vom Kopisten (A) erweitert, deshalb die einleitende Rubrik „Sequitur de quolibet episcopo confessore“ (Über jeden beliebigen Bekenner-Bischof). a) „Felix augusta“ (glückliches Augsburg) ist durch „ecclesia“ und „patauia“ (Passau) ergänzt; b) „Udalrice“ ist durch „wolfgange“, „ruperte“ und („ualentine“?) ergänzt. © Österreichische Nationalbibliothek.
     

    Chranekker schrieb im St.-Emmeram-Codex nur vokale Mensuralnotation, keine Tabulatur, und hier hat er Ce jour le doibt, obwohl vielleicht für die Orgel gedacht, ebenfalls mensural in Partitur geschrieben. In dieser Epoche waren Organisten oft akademisch gebildet und beherrschten verschiedene Musikarten, die sie auch unterrichten konnten (» C. Organisten und Kopisten). In Klöstern und kleineren Pfarreien etwa Wiens war der Organist oft der einzige bestallte Musiker, der somit auch Sänger auszubilden und mit ihnen zu musizieren hatte. Vor allem zum Singen von Privatmessen gruppierte man sich vorzugsweise um eine Kleinorgel. Organisten waren sozial geachtet. Als Magister Conrad Paumann aus München im Jahre 1452 Wien besuchte, wurde er vom Stadtrat entlohnt und in der Fronleichnamsprozession auf einer Sänfte mitgetragen (» E. Städtisches Musikleben). Kein Musikstück in Cod. 5094 fällt aus dem Rahmen, wenn man sich als Entstehungskontext dieser Sammlung ein Wiener Organistenmilieu vorstellt.

  • Die Handschrift Cod. 5094 und ihre Geschichte

    Herkunft und Bestimmung der Musiksammlung in Cod. 5094 erklären sich erst aus ihrem Verhältnis zum Hauptteil der Handschrift selbst. Dieser umfasst die Blätter 1-147 und ist scheinbar noch heterogener als der Musikanhang. Er ist ein zibaldone (Sammelband, commonplace book) und enthält Dokumente und Texte vor allem kirchenrechtlicher Natur.[13]

    Mit der Signatur „Jur. can. 49“ soll er bereits im 16. Jahrhundert dem Humanisten Wolfgang Lazius (1514-1565) an der Universität Wien gehört haben. Im Jahr 1752 wurde er zusammen mit dem Musikanhang für die Wiener Hofbibliothek eingebunden; auf dem Ledereinband sind u. a. die Jahreszahl und die Initialen des damaligen Hofbibliothekars Gerard van Swieten aufgestempelt: „17G[erard]. L.B.V[an]. S[wieten]. B[aron]52“.

    Der Inhalt umfasst mindestens 40 verschiedene Manuskripteinheiten und viele Papiertypen und Kopistenhände; die original eingetragenen Datierungen reichen von 1411 bis 1463. Zum Inhalt gehören Verfügungen des Konstanzer Konzils (fol. 1-57),[14] kanonistische Texte und Traktate (z. B. von Thomas von Aquin, fol. 63-73), Epigramme (von Prosper Aquitanus und Aurelius Prudentius, fol. 74-94), Predigten (fol. 112-120), ein Verzeichnis aller Bischofssitze (fol. 134-135), „Metra de S. Monica“ (fol. 140r) sowie Briefe, päpstliche Bullen und Erlasse, Urkundenkopien und andere Dokumente (gelegentlich in deutscher Sprache).

    Viele Briefe und Urkunden betreffen den Augustiner-Eremitenorden (Ordo Eremitarum S. Augustini), vor allem den Münchner Konvent; Verbindungen zu anderen Konventen, auch zum Minoritenorden, sind ebenfalls belegt, z. B. nach Nürnberg, 1448 (fol. 126r). Die Originalbriefe sind daran zu erkennen, dass sie gefaltet waren (vgl. »Abb. Papiere und Beschriftungen in A-Wn, Cod. 5094) und auf der Außenseite die Adresse steht. Der Regensburger Frater Berthold Puchhauser schreibt aus Wien an Mitglieder des Münchner Konvents, 1411 (fol. 128r), und wiederum aus Regensburg, 1421 (fol. 141r-142r). Georg von Schöntal, Provinzial der Augustinereremiten in Bayern und Österreich, schreibt aus Wien, betreffend einen Ordensbeitritt (fol. 122r). An den Münchner Konvent schreiben der Reichsritter Berthold von Stain zu Uttenweiler, 1456 (fol. 143r)[15], und der Bischof von Bamberg, 1460 (fol. 147r-v). Es gibt Korrespondenz mit einem jungen Augustinerbruder, Maurus Venetus, der in Padua studiert (fol. 145r-v). Mehrfach wird das Thema der Hl. Sakramente behandelt; einer dieser Texte, zur Eucharistie, ist von einem „Nicolaus Mewerl” kopiert (fol. 138v).

    Wegen der Beziehungen des Codex zu den Münchner Augustinern haben Forscher angenommen, dass auch der Musikanhang von dorther stamme. Jedoch gibt es im Musikanhang keine derartigen Hinweise, sondern das Material deutet auf einen österreichischen Kontext. Aber auch manche Dokumente des Hauptteils betreffen Wien und die Habsburger. Einer von mehreren Briefen von Papst Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), ehemals Sekretär König Friedrichs III., informiert die Universität Wien von seiner Papstwahl, 1458 (fol. 124r). Fol. 139 (Fragment) ist Kopie einer Missive von König Albrecht II. (ca. 1438). Die Kopie einer notariell beglaubigten Urkunde (Transsumpt), datiert auf den 8. Februar 1443 (fol. 136v), betrifft einen Streit zwischen den vier Wiener Bettelorden und dem Chormeister von St. Stephan. Dieses Dokument führt zum ursprünglichen Besitzer der Handschrift Cod. 5094 und erlaubt einen Hinweis darauf, wieso diese Münchner kanonistische Sammelhandschrift einen Wiener musikalischen Anhang besitzt.

  • Erasmus Gunther aus München

    Der erwähnte Streit ging um die Ansprüche der Wiener Bettelorden (Minoriten, Augustiner-Eremiten, Dominikaner und Karmeliter), in der Kollegiatkirche zu St. Stephan die Sakramente erteilen zu können. Chormeister Lienhard Orthaber (im Amt 1439-1444) war dagegen und versuchte, die Brüder ganz aus der Kirche zu verbannen. Da viele Bettelmönche Professoren der Wiener Universität waren, wurde der Streit zwischen der Universität und der Kollegiatkirche verhandelt. Das Dokument vom 8. Februar 1443 bekräftigt eine anscheinend endgültige Kompromisslösung, die dem Interesse der Bettelorden entgegenkam (» Abb. Erasmus Gunther in Wien).

    Abb. Erasmus Gunther in Wien / Fig. Erasmus Gunther at Vienna

    Abb. Erasmus Gunther in Wien

    Kopie eines notariellen Transsumpts (Urkundenbestätigung), 8. Februar 1443, betreffend die Erteilung der Sakramente durch Bettelmönche in der Kirche von St. Stephan, beglaubigt durch den königlichen Notar Nicolaus Gerlach: » A-Wn Cod. 5094, fol. 136v. © Österreichische Nationalbibliothek. / Copy of a notarial transsumpt (confirmation of a charter) of 8 February 1443, concerning the distribution of the Holy Sacraments by mendicant friars in the church of St Stephen, endorsed by the royal notary Nicolaus Gerlach: » A-Wn Cod. 5094, fol. 136v. © Österreichische Nationalbibliothek.

     

    In diesem Transsumpt bestätigt der Notar Gerlach vor vier namentlich genannten Zeugen, dass der ehrsame Geistliche Erasmus von München („honorabilis et religiosus vir Erasmus de monaco“), Lehrer der Theologie im Orden der Augustiner-Eremiten, vor ihm persönlich erschienen sei und eine Papierurkunde mit den Siegeln der Fakultäten der Theologie und des Kirchenrechts der Universität Wien vorgelegt habe, deren Inhalt folgender sei („Declaratio“, hier resümiert): „Betreffend die Differenzen zwischen den vier Bettelorden und dem Chormeister zu St. Stephan, wird erklärt, dass nicht irgendwelche Bettelmönche in der Kirche Beichte hören und Absolution erteilen dürfen, sondern nur ernannte und approbierte; dass die betreffenden Gemeindemitglieder zuerst die Erlaubnis ihres Pfarrers einholen müssen; und dass die Brüder die Sakramente der Eucharistie, Letzten Ölung und der Ehe nicht ohne spezielle Genehmigung der Pfarrer („absque curatorum licencia speciali“) erteilen dürfen“. Trotz strenger Bedingungen konnten die Bettelmönche also in St. Stephan Beichte hören und Absolution sowie mit Sondergenehmigung andere Sakramente erteilen, was vermutlich ihren „Kundenkreis“ beträchtlich erweiterte. Erasmus Gunthers Rolle im Disput war höchstwahrscheinlich die eines externen Schiedsrichters.

    Gunther wurde ca. 1444 Prior des Münchner Konvents und 1448 Provinzial der bayrisch-österreichischen Ordensprovinz in der Nachfolge von Georg von Schöntal. Nach erfolgreichem Wirken für die Klosterreform starb er 1461; sein Nachfolger als Provinzial wurde Johannes Ludovici, damals studiorum regens der Wiener Augustiner-Eremiten.[16]

  • Musiksouvenir und Kirchenrecht

    Es sei vorgeschlagen, dass das handschriftliche Material von A-Wn Cod. 5094, das insgesamt rechtliche und praktische Interessen der Augustinerbrüder reflektiert, Erasmus Gunther gehörte und ihm 1443 (soweit schon vorhanden) in seiner Wiener Schiedsrichterrolle diente. Besonders die vielen Originalbriefe legen nahe, dass dieser zibaldone damals sein persönliches Besitztum war und nicht in einer Klosterbibliothek stand. Das beweist freilich noch nicht, dass Erasmus auch der musikalische Anhang gehörte, der erst später mit dem Hauptteil zusammengebunden wurde.

    Doch weder 1752 noch im 16. Jahrhundert bestand ein Grund, den Musikteil und den juridischen Teil zusammenzuführen, was damaligen Bibliotheksordnungen strikt widersprochen hätte. Zudem: Wenn jemand nach dem mittleren 15. Jahrhundert der kanonistischen Handschrift eine selbstgewählte Sammlung von Musikstücken angefügt hätte, dann wären ihm sicher auch neuere Musikalien in die Hände geraten, nicht nur die sämtlich aus den 1440er-Jahren stammenden, die jetzt im Codex stehen. Beide Teile waren also schon während der Zeit, als sie noch ungebunden (oder nur in Einzelfaszikeln geheftet) waren, irgendwie benachbart und wurden zusammen aufbewahrt. Sonst wäre auch das zum Hauptteil gehörende fol. 156 beim Binden kaum zwischen die Musikalien geraten. Somit fügte der erste Einband, wann immer er angefertigt wurde, nur zusammen, was in irgendeiner Weise bereits zusammengehörte. Da im zibaldone die jüngste Datierung 1463 ist und Erasmus Gunther 1461 (wahrscheinlich in Wien) gestorben war; da die ganze Handschrift nicht in München, sondern in Wien erhalten ist; und da die Musikstücke nur den 1440er-Jahren angehören, darf geschlossen werden, dass beide Teile der Handschrift zusammen im Nachlass von Erasmus Gunther gefunden wurden. Seine Erben – vielleicht sein eigener Nachfolger als Provinzial in Wien, Johannes Ludovici – führten den juridischen Teil noch etwas weiter, ließen jedoch die Musik unangetastet, zumal sie damals schon gar nicht mehr aktuell war. Auch Ludovicis Nachfolger als Provinzial im Jahre 1468, Paulus Weygel de Monaco, kommt noch als späterer Besitzer des Codex in Frage; er war der Adressat eines auf 1460 datierten Briefes auf fol. 147r und der Autor einer Urkunde, die 1463 in München ausgestellt wurde (fol. 137v). 1468 war Weygel selbst Lektor in Wien.  

    Erasmus Gunther wäre somit der ursprüngliche Besitzer auch der Musikblätter gewesen. War er ein Musikenthusiast, vielleicht gar selbst Organist? Die von verschiedenen Spezialisten beschrifteten Blätter haben eher den Charakter einer Studiensammlung, einer Anthologie, als den eines liturgisch-praktischen Arbeitsmittels. Erasmus muss sie um 1443, als er (zunächst zu Besuch) in Wien war, gesammelt haben – wie eine Art Souvenir der städtischen und klösterlichen Musikpflege, vor allem der Organisten. Ein Musiker, der noch bis 1461 leben sollte, hätte die Musikanthologie nach den 1440er-Jahren wohl weitergeführt. Warum tat Erasmus das nicht, während er die Hauptsammlung weiter vervollständigte? Da er sich seit 1448 als Klosterreformer einen Namen machte, scheint es möglich, dass er von der weltlichen Kunst Abschied genommen hatte, wie es anscheinend auch der Besitzer des Lochamer-Liederbuchs, Frater Judocus de Windsheim, um 1460 getan hat.[17]

  • Eine „Dankmotette“ für Erasmus

    Es gibt einen noch deutlicheren Beleg dafür, dass Erasmus Gunther und die Musik einst zusammengehörten. Auf dem letzten Blatt des Musikanhangs, fol. 164r, steht eine zweistimmige Gesangskomposition (Cantus und Tenor) oder Motette in hohler Mensuralnotation der 1440er-Jahre mit später (in brauner Tinte) gestrichenem Text, der den „berühmten Richter Erasmus“ feiert (» Abb. Vivat nobilis prosapie).

    Zweistimmige Komposition zu Ehren von Richter Erasmus (Gunther), Wien um 1443-1445. Nach A-Wn, Cod. 5094, fol. 164r. © Österreichische Nationalbibliothek.

    Textrekonstruktion:

    • Vivat nobilis prosapie inclitus iudex Erasmus,
    • francisci familie *quia quisque* fidus meritus,
    • Totum quod est si *cernas ponit* ut *alter munificus*
    • Primogenitoribus mercantibus exivit.
    • Quemque francisce optime tuo munimine
    • fac tue gracie pariterque participem glorie.[18]

    Interpretation:

    Der berühmte Richter Erasmus, von edler Abstammung, wird gerühmt für sein Verdienst (fidus meritus) um die Familie des Hl. Franciscus, der [Zeile 3 unklar] seine Eltern, Kaufleute, verließ (nämlich um Klosterbruder zu werden). Franciscus wird angerufen, dass er ihn mit seinem Schutz versehe und seiner Gnade und Glorie teilhaftig mache.

    Nach A-Wn, Cod. 5094, fol. 164r. Der kanzellierte Text ist in der dritten Zeile noch nicht zufriedenstellend rekonstruiert (» Abb. Vivat nobilis prosapie). Transkription R. Strohm.

    Die Wiener Minoriten (Franziskaner) hatten ebenso wie die anderen Bettelmönche der Stadt Grund, Erasmus Gunther aus München für seine kirchenrechtliche Intervention im Jahre 1443 zu danken. Aus ihren Kreisen scheint die „Dankmotette” zu stammen, die somit auf die Jahre um 1443-1445 datierbar wäre. Dass das Musikstück in derselben Sammlung erhalten ist, die vermutlich Erasmus selbst gehörte, würde den Souvenircharakter der ganzen Sammlung noch einmal betonen. Dass der Text offenbar später unkenntlich gemacht wurde, mag eher auf die persönliche Bescheidenheit des Besitzers oder seiner Erben zurückzuführen sein, wenn nicht gar auf deren Eifersucht. Die Vertonung ist dem Stil der jüngsten Kompositionen im St.-Emmeram-Codex, etwa von Hermann Edlerawer, eng verwandt (»Notenbsp. Vivat nobilis prosapie). Ein Contratenor fehlt. Da derselbe Musikkopist auf der Rückseite des Einzelblattes (fol. 164v) zwei kurze Kompositionsentwürfe aufzeichnete, von denen einer Fragment geblieben ist und der andere nur zwei gleichrangige Stimmen hat, ist vielleicht auch Vivat nobilis unvollendet geblieben, und der fehlende Contratenor wurde nie geschaffen. Als Beleg für die Vielseitigkeit der Wiener Musikszene, besonders des Organistenmilieus, konnte das Stück seinem Widmungsträger gleichwohl dienen – solange er sich eben dafür interessierte.

[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.

[4] Strohm 1966. 

[5] Crane 1965, Göllner 1967.

[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.

[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.

[8] Fallows 1987, 62-63, 239.

[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im „Barant-Ton“ Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).

[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.

[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.

[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].

[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.

[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.

[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.

[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.

[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.


Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu““, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).