Sie sind hier

Ton und Kontrafaktur: der Barantton

Reinhard Strohm

Als Beispiel für die Traditionsbildungen „Ton“ und „Kontrafaktur“ diene eine Verkettung von Liedern im sogenannten “Barantton” oder „Paratton“, die im 14. und 15. Jahrhundert nachweisbar ist.[25] Mit „Ton“ ist hier die in Minnesang und Spruchsang gängige Bezeichnung für ein textliches Formschema gemeint, das einer bestimmten Melodie entspricht.[26] Dichter und Sänger hatten solche Töne im Gedächtnis und konnten daraus neue Lieder formen, indem sie neue Worte dazu erfanden. Dieser Vorgang, auch als „Kontrafaktur“ bekannt (» B. SL Kontrafaktur), war eine wichtige Form der Traditions- und Repertoirebildung des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Liedes, die später weniger geübt wurde. Ein Ton setzt der Neuerfindung weniger enge Schranken als die Übersetzung, bei der auch der Wortsinn erhalten bleiben muss. Und es gab bereits im 15. Jahrhundert verschiedene Fälle, in denen der Bearbeiter nicht nur neue Worte erfand, die zum Reimschema des Tons passten, sondern auch die Tonhöhen der Melodie veränderte: Hier stimmte das neue Lied mit dem alten nur noch in Reimschema und vielleicht Rhythmus überein.

Der Ton als festes Formschema war eine konkrete Vorgabe, an der sich die Kunstfertigkeit und Originalität des nachahmenden Dichters messen konnte. Diese Prozedur regte zum Vergleich, zur Konkurrenz zwischen Autoren an. Manche Töne wurden, unabhängig von den über sie gestalteten Liedern, bestimmten Dichtern zugeschrieben. So ging der hier zu betrachtende „Barantton“ unter dem Namen eines Peter von Sachs (oder von Sachsen), dem nur ein einziges Lied, das in diesem Ton steht, zugeschrieben ist: das Marienpreislied Maria gnuchtig zuchtig.[27]

Wir wissen wenig über die Traditionsbildung durch Ableitung und Nachahmung bei Liedern dieser Zeit, doch zum Barantton des Peter von Sachs teilt uns eine Quelle des späteren 15. Jahrhunderts, die Kolmarer Liederhandschrift (» D-Mbs Cgm 4997, fol. 38v), etwas recht Eindeutiges mit:
„Als her peter von sahsen dem münch von salczburg dyß vorgeschriben par schicket, da schicket er yme dyß nachgende latynysch par her wyder umb in dem selben tone“.[28]
(Als Herr Peter von Sachsen das vorige Gedicht („Bar“) dem Mönch von Salzburg gesandt hatte, da sandte ihm dieser das nachfolgende lateinische Gedicht zurück, in demselben Ton.)

Die Kolmarer Handschrift überliefert also nicht nur das Lied Maria gnuchtig zuchtig des Peter von Sachs, sondern auch ein lateinisches Marienlied über denselben Ton – obwohl nicht Übersetzung –, die sie dem Mönch von Salzburg zuschreibt: O Maria pya (» Hörbsp. ♫ O Maria pya).[29] Die Handschrift bezeugt einen persönlichen Austausch zwischen zwei Dichtern und lässt vermuten, dass man sich bei der Komposition nach Tönen an Regeln hielt und sich gegenseitig beobachtete (selbst wenn wir hier einen Ausnahmefall vor uns hätten). Dies erinnert schon an die Meistersingerpraxis.[30] Zu Peter von Sachs, einem Zeitgenossen des Mönchs, ist nichts weiter bekannt, außer dass er vielleicht einer Familie Sachs angehörte, die Güter bei Mühldorf am Inn (Bayern) besaß – wenn mit dem Herkunftsnamen nicht doch das Land Sachsen gemeint sein sollte.[31]

Es stimmt also die Versstruktur beider Lieder überein, und sie werden auf dieselbe Melodie gesungen. Zwar hat der lateinische Text ein paar Silben weniger, dies kann aber durch fehlende Auftakte und Melismen ausgeglichen werden.

Notenbsp. Maria gnuchtig / O Maria pya

Notenbsp. Maria gnuchtig / O Maria pya

Marienlied des Peter von Sachs im Barantton; vom Mönch von Salzburg als lateinisches Kontrafaktum nachgeahmt (Spechtler 1972, Lied G 9; mit Revisionen nach Waechter/Spechtler 2004, 75).

(» Hörbsp. ♫ O Maria pya)

(O fromme Maria, reich spendende Rebe, milde, duftende Lilie, Hoffnung der Niedrigen und Preis der Keuschheit;du wirst genannt der glänzende Stern des Meeres, Gemach des Königs, Spiegel des neuen Bundes, wohlriechender Kelch, Triumph des Himmels. Goldene, rosenfarbene Primel, Blütenzweig, sei gegrüßet! Umstrahlte, von Königen geborene, umgeben mit Siegespalmen, Ehrenzeichen, würdigen Lobgesängen, von Wundern heiliger Tautropfen bist du benetzt.)

Die textliche Form ist eine Kanzonenstrophe mit „Reprisenbar“:[32] Nach dem paarigen Stollen (Zeilen 1–2) folgt ein anders gestalteter „Steg“ (Zeile 3) aus kürzeren Einheiten; dann führt eine Überleitung zurück zu Melodie und Versform des Stollens (Zeile 4), der aber variiert ist und mit einer längeren Coda (Zeile 5) ausklingt. Was an diesem Ton besonders auffällt, sind die zahlreichen Reime (Schlagreime) in kurzen Abständen. Diese verknüpfen oft gleichartige Wörter, vorwiegend Adjektive, was der rhetorischen Figur der Aufzählung, enumeratio, entspricht. Im Kontext des Lobliedes auf Maria verfällt der demütige Dichter angesichts der Perfektion der Angesprochenen gleichsam in repetierendes Stammeln. Die Reime, die oft voller sind als notwendig (aurea rosula primula virgula: vier gleich strukturierte Wörter), verknüpfen manchmal auch syntaktisch getrennte Satzglieder, etwa über ein Komma hinweg (fragrans lilium, humilium spes). Die erhabene Sprachform bedingt ferner auch die Konstruktion in sehr langen Sätzen.

[25] Röll 1976Kornrumpf 1979Röll 1976, 121–141, erläutert den Begriff „Barantton“ oder „parat-rey“ (d. h. „Parat“-Tanzweise) als einen Kunstausdruck des frühen Meistersangs, der wahrscheinlich mit den Begriffen „Kunststück“ und „Fertigkeit“ zusammenhängt.

[26] Vgl. die grundlegende Studie: Brunner 2013.

[27] Edition zusammen mit den anderen Vertretern dieses Tons in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.

[28] Zitiert nach Wachinger 1989, 120.

[29] Spechtler 1972, Lied G 9. Edition beider Gedichte mit derselben Melodie: Waechter/Spechtler 2004, 75–78. Das Lied ist nicht in den sogenannten Corpushandschriften des Mönchs von Salzburg erhalten; zu diesen vgl. Wachinger 1989, 77–117.

[30] Wachinger 1989, 128, ordnet in der Tat O Maria pya den “Meisterliedern” des Mönchs zu.

[31] Röll 1976Kornrumpf 1979, 19.

[32] Jedes der beiden Lieder hat drei Strophen, von denen hier nur die erste mitgeteilt ist. Edition der vollständigen Texte bei Röll 1976, 30–35 bzw. 55 f.