Vergleich der Melodiefassungen des Baranttons
Die Melodiefassungen der weltlichen Lieder Iam en trena und Man siht läwber in der Sterzinger Miszellaneenhandschrift (I-VIP o. Sign.) und in Laufenbergs Handschrift wurden erstmalig bei Brunner/Hartmann zusammen mit den geistlichen Liedern synoptisch veröffentlicht.[39] Hier ergibt sich ein überraschendes Bild: Die geistlichen Lieder der Gruppe (Digna laude, Maria gnuchtig, O Maria pya) stimmen alle in der Melodie überein, abgesehen von geringen Abweichungen in der Textstruktur und Silbenzahl (» Notenbsp. Maria gnuchtig / O Maria pya). Auch gibt es Schreibfehler oder Varianten, die durch mündliche Überlieferung entstanden, indem nämlich ein Schreiber die Melodie nur aus dem Gedächtnis nachzeichnete. Das Ziel aller dieser Niederschriften war jedoch zweifellos die Wiedergabe derselben bekannten Melodie, nicht nur des Tons. Die Sterzinger Aufzeichnung der Melodie weicht dagegen stark ab.
(Sieh, voll von Trauer – furchtsam, weinend, seufzend, zitternd – steht nun die begraste Erde,deren Pflanzen der Waldnymphen grüne Gabe rief hervor. Durch solchen Neid der Jahreszeit wird sie verdorben, verhasster Raureif kehrt zurück; schon hat sie die Schreckensmacht des Winterschnees zerstört. Welcher Schmerz! Jedes Herz quält des Winters gift‘ge Kälte.Mitten in den Zweigen sind kaum Rosen mehr; es drehet und wehet, als alle Wesen mitleidig trauern, der Winterwind, der Frühlings Huld verjagte.
(Man sieht Blätter, nass vom Taue, vor dem Walde eilend wehen; welken sieht man Berg und Tal.Fahl überall ist schon jedes grüne Sommerkleid.Der Vöglein Singen, Klingen ist gestöret; höret wie die Winde geschwinde wehen durch den Wald.Kalt, ungestalt, stehʼn nun Berg und Anger: Ach und Weh!Ach Winter lang, dein Zwang machet krank, ohn‘ Erbarmen, sommerliche Schöne;Dass ihre gelbe Farbe muss verbleichen, weichen müssen Rosen, verloren immer mehr.Weh, kalter Schnee, du bist ohne Maßen uns zum Hohne.)[40]
Zwar scheint die Kontur dieser Melodie den geistlichen Liedern bisweilen ähnlich, doch ist sie einen Ganzton tiefer gerückt – von D nach C als Grundton – und hat viele Intervallschritte, die in der großen Gruppe gar nicht vorkommen, z. B. einen merkwürdigen Kadenzschritt um eine Terz nach oben und wieder zurück (c–e–c und g–h–g).[41] Das kann einerseits wieder auf mündlicher Überlieferung oder Hörfehlern beruhen; andererseits ist die Transposition der gesamten musikalischen Anlage um einen Ganzton – also eine Änderung des Modus – bei musikalisch gebildeten Schreibern kaum als Hörfehler erklärbar. Auch ein Schreibversehen wie Schlüsselirrtum kommt kaum in Frage, da hier eher die Transposition um eine Terz oder Quint entstehen würde. Nein: Die Sterzinger Melodie von Iam en trena und Man siht läwber scheint bewusst musikalisch anders konzipiert, obwohl sie in Einzelheiten durchaus auf der Melodie von O Maria pya zu fußen scheint.[42]
Laufenbergs Melodiefassung trägt zwar ebenfalls die weltlichen Texte, ist aber sicher nicht von der Sterzinger Miszellaneenhandschrift abhängig. Vielmehr steht sie den geistlichen Liedern nahe, vor allem indem sie den Grundton D beibehält. Laufenberg hat entweder Texte und Melodie aus verschiedenen Quellen entnommen, oder die weltlichen Liedtexte zirkulierten auch mit der Melodie in der Fassung auf D. Im letzteren Fall dürfte die Sterzinger Fassung eine vereinzelte, abweichende Bearbeitung überliefern. Der musikalische Bearbeiter hatte eine Melodie im Ohr und den Text in schriftlicher Fassung vor sich, entschied sich aber bei der Melodie für eine tiefere Lage und einen anderen Modus.
Dem entspricht es, dass dieser Bearbeiter auch in etwas Anderem alleinsteht: Er bietet uns eine Stellungnahme zum Rhythmus. Um diesen geht es nämlich, wenn die ersten vier Noten mit Notenhälsen nach oben ausgestattet sind, als Symbole für kürzere Notenwerte. Hälse sind im Weiteren nicht mehr vorhanden, obwohl – wie bei der modernen Vorschrift „segue“ – auch an Parallelstellen wie z. B. Zeile 4 sicher wieder kürzere Werte gemeint sind.[43] Die Aufzeichnung impliziert jedenfalls zwei verschieden lange Notenwerte. Die normalen, längeren Noten (rhombische Semibreven) sind manchmal hohl und manchmal schwarz ausgefüllt; auch die charakteristische Ligatur „c–e–c“ an zwei Zeilenenden erscheint einmal hohl und einmal voll. Das bedeutet hier keine mensurale Differenzierung – wie es sie damals auch gab –, sondern nur eine Unschlüssigkeit des Schreibers. Sie dürfte damit zu tun haben, dass er sich eine rote Füllung der Noten gewünscht hätte – nur zur Verzierung.[44] Dass die Notenhälse am Anfang jedoch bewusst zur rhythmischen Differenzierung eingesetzt wurden, folgt daraus, dass sie im Unterschied zu nicht-rhythmisch gemeinten Longa-Hälsen nach oben, nicht nach unten gezogen sind; die letztere Form ist ganz vermieden.[45] Insofern ist die gesamte Aufzeichnung als rhythmisch gedacht interpretierbar.
[39] Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[40] Die hier angebotenen Übersetzungsversuche respektieren den genauen Wortlaut der Sterzinger Handschrift; emendiert wurde nur morem redit, cedit ros zu morem cedit, redit ros. Andere Übersetzungsversuche beruhen auf emendierten Textfassungen unter Heranziehung mehrerer Quellen.
[41] Der Terzschritt g–h–g darf schon wegen seiner Entsprechung zu c–e-–c nicht zur kleinen Terz g–b–g vermindert werden; freilich ist an wenigen anderen Stellen fa (b) denkbar.
[42] Die Sonderstellung der Sterzinger Melodiefassung wurde in der früheren Literatur kaum beachtet, da keine zuverlässigen Transkriptionen zur Verfügung standen.
[43] Eine moderne Übertragung mit längeren und kürzeren Notenwerten, allerdings z. T. an den falschen Stellen und melodisch unrichtig, versuchen Moser/Müller-Blattau 1968, 276 f.
[44] In der Handschrift kommen die hohlen Formen insgesamt nur in vier Liedern vor. Zur Erklärung vgl. auch Röll 1976, 166 mit Anm., doch sollte zwischen der allgemeinen „weißen Notation“, die sich in der Region erst gegen 1435 durchsetzte und hier noch nicht wirklich vorliegt, und der zu Mensurzwecken ausgehöhlten Notenform deutlicher unterschieden werden.
[45] Die von böhmischer Notation beeinflussten Sterzinger Schreiber verwenden Longa-Hälse insgesamt sehr selten, wohl aus entsprechenden Gründen. Ausnahmsweise kommen nach unten gezogene Longa-Hälse für verlängerte Schlussnoten vor.
[1] Dante Alighieri betont in De vulgari eloquentia (ca. 1305), dass die Kanzone als Gedicht allein wertvoll sei, ob sie nun mit Melodie vorgetragen werde oder nicht. Er versichert, kein Instrumentalist könne seine Melodie eine Kanzone, d. h. ein Lied, nennen, außer wenn sie einem Gedicht „vermählt“ sei (nupta est). (Alighieri 1946, 94 f.) Vgl. auch Strohm 2011, 380.
[2] Eustache Deschamps (1392) bezeugt den mündlichen, aber textlosen Vortrag einer Melodie (Haug 2004, 63). Zu textloser Niederschrift vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.
[3] Hier sei “Lied” im engeren Sinn verstanden, z. B. im 14. Jahrhundert als lyrischer Gesang mit Refrain, im Gegensatz zu refrainlosem und eher didaktischem „Spruchsang“ oder „Meistersang“ (vgl. Brunner/Hartmann 2010) und unstrophigen Formen wie Leich und Sequenz. Zu Rufen und Leisen vgl. » B. Geistliches Lied.
[4] Manche Gattungs- und Repertoiregrenzen sind freilich erst von der modernen Forschung gezogen worden, wie z. B. zwischen „Lied“ und „Chanson“: vgl. Kirnbauer 2011.
[5] Neue Ansätze bietet Lewon 2016.
[8] Zur eigenständigen Mehrstimmigkeit vgl. Welker 1984/1985, Welker 1990.
[9] Schwindt 2004 stellt die Abhängigkeit der deutschen Liederdichter von der westeuropäischen Kultur der formes fixes dar.
[10] Vgl. auch [Lewon, Marc:] Musikleben-Supplement: News and by-products from the research project “Musical Life of the late Middle Ages in the Austrian Region (1340–1520)”, URL: http://musikleben.wordpress.com/ [02.05.2016]. Der Nachweis, seit wann sich diese Niederschriften in Österreich befanden und ob sie hier musikalisch verwendet wurden, ist oft schwierig.
[13] Grundlegend Bärnthaler 1983, mit Tabelle der Übersetzungen auf S. 309–312. Ich ordne G 19, Maidleich pluem, eher den Kontrafakten zu.
[15] Wachinger 1989, Anhang III, 159–197, Lieder in Tönen des Mönchs von Salzburg. Zu Einzelheiten vgl. auch März 1999, Kommentare S. 367–505.
[16] Tabellen bei Bärnthaler 1983, 312 ff.
[17] Wachinger 1989, Anhang II, 145–158, behandelt zwei späte Übertragungen der Sequenz Ave praeclara im Kontext der Mönch-Rezeption.
[18] Bärnthaler 1983, 266–274. Zu diesen Übersetzungen und ihrer Quellenüberlieferung vgl. auch Straub 1996/1997.
[19] Bärnthaler 1983, 272. Gegensätzliche Auffassungen von der sprachlichen Rolle des Übersetzens aus dem Lateinischen im Wien des 15. Jahrhunderts beschreibt Bärnthaler auf S. 26 ff.
[20] Janota 1968, 84–90.
[21] Die Zuschreibung der zweiten Übersetzung an Oswald geht aus dem Inhaltsverzeichnis von D-Mbs Cgm 715, fol. 3r , hervor: “Ein ander mundi renovacio des Wolckenstainer“ (» Abb. Register geistlicher Lieder).
[22] Wachinger 1979, 358–361.
[23] Noten und Text für G 28 und Kl 129 nach D-Mbs Cgm 1115, fol. 31r–32v, sowie Waechter/Spechtler 2004, 137 f. (für Latein und G 28); Laufenbergs Text nach Wackernagel 1867, 437.
[24] Göllner 1993, 127.
[25] Röll 1976; Kornrumpf 1979. Röll 1976, 121–141, erläutert den Begriff „Barantton“ oder „parat-rey“ (d. h. „Parat“-Tanzweise) als einen Kunstausdruck des frühen Meistersangs, der wahrscheinlich mit den Begriffen „Kunststück“ und „Fertigkeit“ zusammenhängt.
[26] Vgl. die grundlegende Studie: Brunner 2013.
[27] Edition zusammen mit den anderen Vertretern dieses Tons in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[28] Zitiert nach Wachinger 1989, 120.
[29] Spechtler 1972, Lied G 9. Edition beider Gedichte mit derselben Melodie: Waechter/Spechtler 2004, 75–78. Das Lied ist nicht in den sogenannten Corpushandschriften des Mönchs von Salzburg erhalten; zu diesen vgl. Wachinger 1989, 77–117.
[30] Wachinger 1989, 128, ordnet in der Tat O Maria pya den “Meisterliedern” des Mönchs zu.
[31] Röll 1976; Kornrumpf 1979, 19.
[32] Jedes der beiden Lieder hat drei Strophen, von denen hier nur die erste mitgeteilt ist. Edition der vollständigen Texte bei Röll 1976, 30–35 bzw. 55 f.
[33] Vorhanden in der Oswald-Handschrift A (ca. 1425); in Handschrift B (ca. 1432) in Melodie und Rhythmus umgearbeitet. Edition beider Fassungen in Schönmetzler 1979, 115 f., 309 f., 357. Beschreibung in Röll 1976, 87–101.
[35] Kornrumpf 1979, 16 ff. Textedition von Digna laude, gaude in Dreves 1886, 59 f. (Nr. 18). Es stellt sich die Frage, warum nicht auch das Marienlied O Maria pya des Mönchs als „Cantio“ bezeichnet werden sollte, wenn nach Kornrumpf Digna laude, gaude so zu bezeichnen ist (» A. Weihnachtsgesänge zu frühesten Anwendungen des Gattungsnamens).
[36] Edition mehrerer Varianten in Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[37] Röll 1976, 63–85, mit wertvollen Analysen. Die Verallgemeinerung, dass „deutsche Nachbildungen lateinischer Lieder wohl die Regel sind und das Umgekehrte die Ausnahme darstellt“ (S. 64), ist freilich überzogen.
[38] Röll 1976, 63–69, wo die Sterzinger Handschrift noch als verschollen gilt. Zu den bei Laufenberg überlieferten Texten siehe Wackernagel 1867, 566 f.
[39] Brunner/Hartmann 2010, 307–311.
[40] Die hier angebotenen Übersetzungsversuche respektieren den genauen Wortlaut der Sterzinger Handschrift; emendiert wurde nur morem redit, cedit ros zu morem cedit, redit ros. Andere Übersetzungsversuche beruhen auf emendierten Textfassungen unter Heranziehung mehrerer Quellen.
[41] Der Terzschritt g–h–g darf schon wegen seiner Entsprechung zu c–e-–c nicht zur kleinen Terz g–b–g vermindert werden; freilich ist an wenigen anderen Stellen fa (b) denkbar.
[42] Die Sonderstellung der Sterzinger Melodiefassung wurde in der früheren Literatur kaum beachtet, da keine zuverlässigen Transkriptionen zur Verfügung standen.
[43] Eine moderne Übertragung mit längeren und kürzeren Notenwerten, allerdings z. T. an den falschen Stellen und melodisch unrichtig, versuchen Moser/Müller-Blattau 1968, 276 f.
[44] In der Handschrift kommen die hohlen Formen insgesamt nur in vier Liedern vor. Zur Erklärung vgl. auch Röll 1976, 166 mit Anm., doch sollte zwischen der allgemeinen „weißen Notation“, die sich in der Region erst gegen 1435 durchsetzte und hier noch nicht wirklich vorliegt, und der zu Mensurzwecken ausgehöhlten Notenform deutlicher unterschieden werden.
[45] Die von böhmischer Notation beeinflussten Sterzinger Schreiber verwenden Longa-Hälse insgesamt sehr selten, wohl aus entsprechenden Gründen. Ausnahmsweise kommen nach unten gezogene Longa-Hälse für verlängerte Schlussnoten vor.
[47] Dronke 1968, 416.
[48] Kornrumpf 1989, Sp. 453.
[49] Dronke 1968, 415; dass der deutsche Text nicht als Lied alleinstehen könne, leuchtet mir nicht ein.
[50] Bernt 1983, 840 f.; vgl. auch » B. SL Kontrafaktur.