Praktische Nutzung der Musik von Cod. 5094
Frederick Crane (1965) und Theodor Göllner (1967) erkannten das Problem der scheinbaren Uneinheitlichkeit dieser Musiksammlung.[5] Crane untersuchte aber nur die Stücke in „keyboard notation“. Göllner identifizierte mit seinem Aufsatztitel Notationsfragmente aus einer Organistenwerkstatt eine bestimmte gemeinsame Nutzungsart. Was war jedoch eine „Organistenwerkstatt” im 15. Jahrhundert? War es die Orgelempore einer Kirche? Und was genau passierte dort? Auf dem Spielpult einer Orgel lassen sich besonders die horizontal beschrifteten Blätter gut auflegen. Doch die vier Stimmen des Segnier Leon (in Strichnotation) hätte man nur dann gleichzeitig abspielen können, wenn man das Doppelblatt fol. 154-155 am Falz zertrennt und die beiden Hälften auf dem Pult nebeneinander aufgelegt hätte: Denn die beiden Blätter sind in entgegengesetzter Orientierung beschriftet. Die mehrfache Aufzeichnung des Offiziumshymnus Ave maris stella in Mensuralnotation, Strichnotation, 9-Liniensystem und Buchstabennotation scheint eher Studienzwecken zu dienen als einer liturgischen Aufführung.[6] Viele Blätter waren vor dem Einbinden in den jetzigen Band gefaltet, einige mehrfach. Dies bedeutet unter damaligen Verhältnissen, dass die Blätter transportiert und vielleicht als Brief verschickt wurden.
Wir wissen, dass Organisten einstimmige Choräle spielten, u. a. um den Chor zu begleiten. Neun der siebzehn Musikblätter von Cod. 5094 enthalten einstimmige Choräle. Dabei verwendet Kopist A eine fast diminutive Schriftgröße, die eine Sängergruppe von etwa 4-8 Personen kaum ablesen könnte (»Abb. Choralnotation für die Orgel in Cod. 5094). Der Organist konnte sie jedoch im Gottesdienst von dieser Aufzeichnung abspielen: Bei der Sequenz Psallat concors symphonia spielte er nur alternierende Verse, während der Chor aus einer anderen Niederschrift oder auswendig sang.
Den Versabschnitten der Sequenz sind nur Anfangsworte unterlegt; geradzahlige Verse sind auch in Noten nicht ausgeschrieben, da sie vom Chor allein gesungen werden. Diese alternierende Ausführung zwischen Chor mit Orgelbegleitung und Chor allein ist nur bei dieser Sequenz angedeutet, nicht bei dem folgenden Sanctus und anderen Stücken.
Einige Choralmelodien sind in Formen nicht-mensuraler (klösterlicher) Mehrstimmigkeit gesetzt oder als >cantus fractus< rhythmisch aufgezeichnet. Für diese Sonderformen des ausgeschmückten Chorals brauchte man außer der Orgel vielleicht geübtere Sänger. Allerdings zeigen die von drei Kopisten (A, C und G) verwendeten Strichnotationen und die Notenwertpunkte bei Kopist K, dass von solchen Sängern die Beherrschung westeuropäischer Mensuralnotation nicht unbedingt erwartet wurde.
Die sieben vorhandenen weltlichen Stücke sind entweder textlos (Ce jour le doibt, Apollinis eclipsatur), oder sie haben lateinischen Text oder nur kurze Textmarken. Bei Du Fays Segnier Leon (» Hörbsp. ♫ Seigneur Leon) sind das französische Textincipit und das lateinische des Tenors (Benedictus qui venit) erhalten geblieben. Drei Stücke sind lateinische geistliche Kontrafakte weltlicher Vorlagen, wobei Oswald von Wolkensteins Froleich geschrai (» Hörbsp. ♫ Skak – Frölich geschrai) und des Mönchs von Salzburg Ju ich jag ihrerseits auf französische Originale zurückgehen. Der unterlegte lateinische Text von Vivat nobilis prosapie (fol. 164r) ist getilgt.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im „Barant-Ton“ Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu““, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).