Musiksouvenir und Kirchenrecht
Es sei vorgeschlagen, dass das handschriftliche Material von A-Wn Cod. 5094, das insgesamt rechtliche und praktische Interessen der Augustinerbrüder reflektiert, Erasmus Gunther gehörte und ihm 1443 (soweit schon vorhanden) in seiner Wiener Schiedsrichterrolle diente. Besonders die vielen Originalbriefe legen nahe, dass dieser zibaldone damals sein persönliches Besitztum war und nicht in einer Klosterbibliothek stand. Das beweist freilich noch nicht, dass Erasmus auch der musikalische Anhang gehörte, der erst später mit dem Hauptteil zusammengebunden wurde.
Doch weder 1752 noch im 16. Jahrhundert bestand ein Grund, den Musikteil und den juridischen Teil zusammenzuführen, was damaligen Bibliotheksordnungen strikt widersprochen hätte. Zudem: Wenn jemand nach dem mittleren 15. Jahrhundert der kanonistischen Handschrift eine selbstgewählte Sammlung von Musikstücken angefügt hätte, dann wären ihm sicher auch neuere Musikalien in die Hände geraten, nicht nur die sämtlich aus den 1440er-Jahren stammenden, die jetzt im Codex stehen. Beide Teile waren also schon während der Zeit, als sie noch ungebunden (oder nur in Einzelfaszikeln geheftet) waren, irgendwie benachbart und wurden zusammen aufbewahrt. Sonst wäre auch das zum Hauptteil gehörende fol. 156 beim Binden kaum zwischen die Musikalien geraten. Somit fügte der erste Einband, wann immer er angefertigt wurde, nur zusammen, was in irgendeiner Weise bereits zusammengehörte. Da im zibaldone die jüngste Datierung 1463 ist und Erasmus Gunther 1461 (wahrscheinlich in Wien) gestorben war; da die ganze Handschrift nicht in München, sondern in Wien erhalten ist; und da die Musikstücke nur den 1440er-Jahren angehören, darf geschlossen werden, dass beide Teile der Handschrift zusammen im Nachlass von Erasmus Gunther gefunden wurden. Seine Erben – vielleicht sein eigener Nachfolger als Provinzial in Wien, Johannes Ludovici – führten den juridischen Teil noch etwas weiter, ließen jedoch die Musik unangetastet, zumal sie damals schon gar nicht mehr aktuell war. Auch Ludovicis Nachfolger als Provinzial im Jahre 1468, Paulus Weygel de Monaco, kommt noch als späterer Besitzer des Codex in Frage; er war der Adressat eines auf 1460 datierten Briefes auf fol. 147r und der Autor einer Urkunde, die 1463 in München ausgestellt wurde (fol. 137v). 1468 war Weygel selbst Lektor in Wien.
Erasmus Gunther wäre somit der ursprüngliche Besitzer auch der Musikblätter gewesen. War er ein Musikenthusiast, vielleicht gar selbst Organist? Die von verschiedenen Spezialisten beschrifteten Blätter haben eher den Charakter einer Studiensammlung, einer Anthologie, als den eines liturgisch-praktischen Arbeitsmittels. Erasmus muss sie um 1443, als er (zunächst zu Besuch) in Wien war, gesammelt haben – wie eine Art Souvenir der städtischen und klösterlichen Musikpflege, vor allem der Organisten. Ein Musiker, der noch bis 1461 leben sollte, hätte die Musikanthologie nach den 1440er-Jahren wohl weitergeführt. Warum tat Erasmus das nicht, während er die Hauptsammlung weiter vervollständigte? Da er sich seit 1448 als Klosterreformer einen Namen machte, scheint es möglich, dass er von der weltlichen Kunst Abschied genommen hatte, wie es anscheinend auch der Besitzer des Lochamer-Liederbuchs, Frater Judocus de Windsheim, um 1460 getan hat.[17]
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[2] Vgl. Ristory 1985.
[3] Identifiziert durch Rumbold-Wright 2009, 100-103; Wright 2010. Tom R. Ward hatte die Identität der Kopistenhand B mit dem jüngsten Teil des St.-Emmeram-Codex zuerst bemerkt.
[4] Strohm 1966.
[5] Crane 1965, Göllner 1967.
[6] Ristory 1985 interpretiert die Niederschriften des Ave maris stella als Notationsübung; Klaus Aringer (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente (1400–1520)) und Bernhold Schmid (»C. Organisten und Kopisten) vertiefen den notationstechnischen Aspekt.
[7] Klugseder-Rausch 2012, 117-119.
[8] Fallows 1987, 62-63, 239.
[9] Shields 2011, 135. O pia Maria, eine Kontrafakur nach Ju ich jag, die auch in » D-Mbs Cgm 716, fol. 104r-106r erhalten ist, sei nicht verwechselt mit dem geistlichen Lied O Maria pya des Mönchs, das im „Barant-Ton“ Peters von Sachs gedichtet ist (vgl. » Kap.Ton und Kontrafaktur: der Barantton).
[10] März 1999 (Lied Nr. W31); Strohm 2014, 17-19.
[11] Mündliche Information von Prof. Lorenz Welker.
[12] Zuletzt zu „Skak“, vgl. Fallows 1999, 345-346; Lewon 2018, 288.
[13] Eine selektive Inhaltsübersicht mit einigen Texttranskriptionen aus dem Musikteil bei Zapke [2014].
[14] Der Rückentitel des Bandes von 1752 lautet Acta Concilii Constantiensis.
[15] Berthold gründete 1449 das Augustiner-Eremitenkloster Uttenweiler bei Biberach.
[16] Die Biographie Gunthers wird berichtet in Anonym, Catalogus priorum provincialium Ord. Erem. S. Augustini per provinciam, München: Riedlin, 1729, 12.
[17] Zu Judocus von Windsheim als Besitzer des Lochamer-Liederbuchs vgl. Salmen-Petzsch 1972.
[18] * - * : unsichere Lesungen. fidus: über der Zeile nachgetragen, vielleicht *quisque* ersetzend.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs aus einem Wiener „Organistenmilieu““, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/a-wn-cod-5094-souvenirs-aus-einem-wiener-organistenmilieu> (2018).