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Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“ in A-Wn, Cod. 5094

Reinhard Strohm

Eine merkwürdig bunte Sammlung musikalischer Aufzeichnungen befindet sich im Anhang der Handschrift » A-Wn Cod. 5094, die im Hauptteil eine Sammlung kirchenrechtlicher und kirchenpolitischer Texte ist. Letzteres Material stammt aus der Zeit von ca. 1420 bis ca. 1465; die musikalischen Teile sind in die 1440er Jahre zu datieren. (Zur Herkunft und Zusammengehörigkeit der beiden Sammlungen vgl. » A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs.) Während viele Dokumente und Traktate des Hauptteils mit dem Augustiner-Eremitenkloster München zu tun haben, ist der Musikanhang mit Wien bzw. der Region Österreich verbunden: Einer der wohl 12 verschiedenen Schreiber ist Wolfgang Chranekker, der 1441 belegte Organist und zweitwichtigste Schreiber von » D-Mbs Clm 14274 (vgl. Kap. Der St. Emmeram-Codex); außerdem finden sich hier, fragmentarisch, eine Komposition Oswalds von Wolkenstein mit lateinischem Kontrafakturtext und ein geistliches Liedkontrafakt des Mönchs von Salzburg. Der Text einer einstimmigen Sequenz für den Bekenner-Bischof St. Ulrich (von Augsburg) ist vom gleichen Schreiber auch für die Salzburger Diözesanheiligen Wolfgang und Rupert sowie für die Diözese Passau (und damit Wien) adaptiert worden (vgl. Inhaltsübersicht » K. A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs.)

Da Chranekker und andere Schreiber Orgeltabulaturschrift und >Strichnotation< verwenden, wurde öfters vorgeschlagen, der Musikanhang stamme aus der Praxis von Organisten, ja geradezu einer „Organistenwerkstatt“ (vgl. » C. Orgeln und Orgelmusik, » C.  Organisten und Kopisten).[37] Doch gibt es weitere Aspekte einer instrumental-vokalen Praxis geistlicher Musik, wie sie vermutlich in Wiener Kirchen und Klöstern von Organisten und anderen Musikern ausgeübt wurde. Die Sammlung enthält nämlich außer eigentlicher Tabulaturschrift sowie instrumental gedachter Partiturnotation und Strichnotation auch ein- und zweistimmige Messensätze in >cantus fractus< (rhythmisierter Choralschrift) oder in einer halbmensuralen Notation mit >Notenwertpunkten<: Diese Notationsweisen waren besonders für Sänger gedacht, die mit den Regeln der Mensuralnotation nicht vertraut waren. Solche Sänger dürften oft unter der Leitung von Organisten musiziert haben, vor allem in Klöstern, wo kein eigentlicher Kantor angestellt war. Ferner umfasst die Sammlung viele einstimmige Choralmelodien – meist dem Messproprium für Maria und anderen beliebten Heiligen zugehörig –, die von Organisten zusammen mit dem allgemeinen Chor oder alternierend ausgeführt werden konnten. Die mehrfache Niederschrift einer dreistimmigen Vertonung des Marienhymnus „Ave maris stella“ erinnert an kompositorische Versuche mit demselben Hymnus im St. Emmeram-Codex (» C. Kompositorische Lernprozesse).

Mensurale Vokalkompositionen finden sich auch als Kontrafakte oder textlos. Zwei stammen von Guillaume Du Fay: das verbreitete Rondeau Ce jour le doibt (textlos) und die Huldigungskomposition Seigneur Leon/Benedictus qui venit (nur Textincipits vorhanden) auf Marchese Lionello d’Este von Ferrara, 1442 (» Hörbsp. ♫ Seigneur Leon). Eine dritte Komposition, Vivat nobilis prosapie, deren Text vollständig unterlegt, jedoch gestrichen ist, hatte wohl ebenfalls einen zeremonialen Zweck. Die Kanzellierung verbirgt den Namen eines gefeierten Besuchers in Wien: des Augustinerbruders und Kanonisten Erasmus Gunther aus München (» K. A-Wn Cod. 5094: Souvenirs).

[37] Diese Charakterisierung wurde von Göllner 1967 eingeführt.