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Vollständig erhaltene Klosterhandschriften

Reinhard Strohm

Selten beachtet wird eine ehemalige Musikhandschrift des Wiener Minoritenklosters aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, die sich bis zum 2. Weltkrieg in der Preußischen Staatsbibliothek befand, dann an die Biblioteka Jagiellońska Kraków gelangte: » PL-Kj Berol. Mus. Ms. 40580.[13] Sie enthielt Ordinariumsgesänge mit Tropen, Sequenzen, Benedicamus domino, Alleluia, Antiphonen, Responsorien, Cantionen und sogar, als Nachträge auf dem Innendeckel, zwei deutsche Lieder. Nicht weniger als 16 Stücke sind in einfacher („klösterlicher“) Mehrstimmigkeit gesetzt (» A. Klösterliche Mehrstimmigkeit). Man hat hier vielleicht mehr gesammelt als in der täglichen rituellen Praxis der Minoriten verlangt war; es muss aber Musikunterricht erteilt worden sein, um die Stücke vortragen zu können. Sechs verschiedene Hände waren an der Herstellung der Handschrift beteiligt, sie interessierte somit mehr als ein Konventsmitglied.

Robert Klugseder bemerkte den Zusammenhang dieser Quelle mit dem Prozessionar der Österreichischen Nationalbibliothek, » A-Wn Cod. 1894, das vormals dem Büßerinnenkloster von St. Maria Magdalena vor dem Schottentor gehörte, wie der Besitzeintrag auf fol. 1r erklärt: „Daz puech gehort czu sant Maria Magdalen vor schotten tar czu wienn“. Auf fol. 95v steht die Jahreszahl 1489.[14] Im Unterschied zu anderen musikalischen Codices aus diesem Kanonissenkloster[15] enthält der kleine Band Prozessionsgesänge und Offizien des Dominikanerordens, weshalb er wohl erst nach seiner ursprünglichen Abfassung nach St. Maria Magdalena kam. Er wurde dort mit Nachträgen versehen. Bereits im früheren Zustand enthielt der Codex zwei zweistimmige >Lektionen< für Weihnachten, von denen eine („Vox clamantis“) auch in PL-Kj Berol. Mus. Ms. 40580, überliefert ist.[16] Und ähnlich wie dort steht auch hier auf dem hinteren Innendeckel ein deutsches geistliches Liebeslied, ohne Noten: „Maria aller engel ain clare chraune“ (Maria, leuchtende Krone aller Engel). 

In Frauenklöstern waren deutschsprachige Gesänge beliebt – obwohl nicht angenommen werden darf, dass Klosterfrauen nicht lateinisch sangen, denn dafür gibt es unzählige Beispiele. Der 1477 datierte » Cod. 3079 der Österreichischen Nationalbibliothek[17] jedoch ist ein hervorragendes Monument der Eindeutschung des chorischen Gesangsrepertoires, wie sie sich gegen 1500 vor allem in Laiengemeinschaften durchsetzte – im Unterschied zu den älteren deutschen Übersetzungen solistischer Gesänge und geistlicher Lieder (vgl. » B. Traditionsbildungen des Liedes). In Cod. 3079 ist ein Großteil der chorischen Gesänge – vor allem Psalmen und Hymnen – des Passauer Diözesanbreviers ins Deutsche übersetzt und mit Noten versehen, wurde also vom Klosterchor gesungen. Ein Beispiel ist die Versübersetzung des Weihnachtshymnus A solis ortus cardine, die denselben Noten unterlegt ist (fol. 170v-172r; vgl. » Hörbsp. ♫ Von dem angell der sun auffgang). Die Handschrift wird aufgrund historischer Hinweise dem Büßerinnenkloster St. Hieronymus in der Weihburggasse zugeordnet; die erste Rubrik auf fol. 1r, erwähnt „die Singerin“ (Vorsängerin).[18] Auf derselben Seite steht ein Besitzvermerk Kaiser Friedrichs III. und dessen Devise „A.E.I.O.U.“ – vielleicht weil der Kaiser den Schreiber des Codex, der sich namentlich nennt (Erasmus Werdener aus Delitzsch), zugunsten des Klosters bezahlen ließ.

[13] Die Handschrift ist jetzt verschollen; ein Mikrofilm ist erhalten. Vgl. DIAMMhttp://www.diamm.ac.uk/jsp/Descriptions?op=SOURCE&sourceKey=24Klugseder 2014, 146-147.

[14] Klugseder 2014, 146-147.

[15] » A-Wn Cod. 1915, » Cod. 1931 und » Cod. 1932: vgl. Klugseder 2014, 158-160 und 163-167, mit Abb. 48-51. Zur Geschichte des Klosters vgl. Stoklaska 1986, 84-103.

[16] Die andere zweistimmige Lektion, “Consolamini popule meus“ auf fol. 44v-45r (Klugseder 2014, Abb. 43), ist weithin überliefert, z. B. in » A-Iu Cod. 457, vgl. » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit: Arten» K. Musikalische Quellenporträts.

[17] » A-Wn Cod. 3079Klugseder 2014, 167-173 mit Abbildungen.

[18] Vgl. Klugseder 2014, Abb. 52a-b. Zur Institution vgl. Stoklaska 1986, 104-110; Perger/Brauneis 1977, 230-233.