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Ein sapphischer Hymnus aus dem Himmelpfortkloster

Reinhard Strohm

Wiener Choralbücher und Musikfragmente aus Klöstern sind häufiger erhalten als weltkirchliche Quellen.[9] Eine Sammlung von Pergamentfragmenten im Wiener Stadt- und Landesarchiv (A-Wsa) ist aus ehemaligen Einbänden von Amtsbüchern des Wiener Bürgerspitals gebildet worden; diese Pergamentblätter stammen aus Choralhandschriften des 13.-16. Jahrhunderts und wurden von Wiener Buchbindern des 17. Jahrhunderts verarbeitet. Klaus Lohrmann identifizierte darunter Teile von Antiphonarien, Gradualien und notierten Chorpsaltern aus Wien bzw. der Passauer Diözese, meist in gotischer Choralnotation oder Quadratnotation.[10] Eine der von ihm vorgeschlagenen Provenienzen ist das Zisterzienserinnenkloster St. Niklas vor dem Stubentor (bzw. in der Singerstraße), eine andere das Praemonstratenserinnenkloster St. Agnes („Himmelpfortkloster“), das offenbar Beziehungen zu St. Stephan hatte (» E. Musik im Gottesdienst, Kap. Zwei polyphone Stiftungen).[11]

Auffallend ist ein großformatiges Blatt mit rhythmischer Notation (um 1480) in einem Sequentiar-Hymnar des Himmelpfortklosters, das für den Chorgesang der Nonnen bestimmt war. Das Blatt enthält nicht zufällig einen Hymnus für die Jungfrau und Märtyrerin St. Agnes: „Virginis proles opifexque matris“ (» Abb. Virginis proles). Der lateinische Text, der wohl in Rom im 8. oder 9. Jahrhundert entstand, ist eine korrekt skandierte sapphische Strophe. Der hier den Noten unterlegte Text der ersten Strophe ist:

Ad nocturnum. Ymnus.Virginis proles opifexque matris,/ Virgo quem gessit peperitque virgo,/ Virginis festum canimus tropheum,/ Accipe votum.[12]

(Zur Nokturn: Hymnus. Sohn der Jungfrau und Schöpfer der Mutter, den eine Jungfrau trug und eine Jungfrau gebar: Wir besingen das Siegesfest einer Jungfrau: Nimm unsere Bitte an.)

 

Abb. Virginis proles

Abb. Virginis proles

Aus einem Hymnar des Wiener Himmelpfortklosters. Fragment 333 der Sammlung von Choralfragmenten aus dem Bürgerspital. Wiener Stadt- und Landesarchiv Wien (A-Wsa, Bürgerspital fr. 333). Quelle: WStLA (CC BY-NC-ND 4.0), nicht bearbeitet.

 

Die im Wiener Fragment notierte Melodie ist verschieden von den ausländischen Quellen; sie steht im E-Modus und wird syllabisch deklamierend vorgetragen (» Notenbsp. Virginis proles). Die Notation unterscheidet zwischen langen (quadratischen) und kurzen (rhombischen) Noten; dies bezeugt, dass der Hymnus rhythmisch im Chor gesungen wurde. Er ist ein Beispiel des rhythmischen Kirchenchorals (» A. Rhythmischer Choralgesang), wie er in Klöstern und Stiften geübt wurde; er ist auch nicht weit entfernt von den lateinischen, metrischen Gesängen der sogenannten „Humanistenode“, die in dieser Region um 1500 entwickelt wurde (» I. Odengesang). Freilich: Im Gegensatz zur humanistischen Metrik werden hier die langen und kurzen Noten nach den lateinischen Wortbetonungen verteilt, nicht nach den lateinischen Skansionsregeln, die im Text beachtet werden. Solchen rhythmischen Umdeutungen des sapphischen Strophenschemas diente die von Guido d’Arezzo (11. Jh.) bekanntgemachte Melodie „Ut queant laxis resonare fibris“, die ebenfalls in dieser Weise rhythmisch gesungen worden ist, als einprägsames Vorbild.

 

[9] Zum Schottenkloster vgl. Schusser 1986, S. 21-26 (Niederkorn-Bruck/Pass). Zu Choralfragmenten im Archiv von St. Michael vgl. Schusser 1986, S. 20-21 (Walter Pass).

[10] Klaus Lohrmann und Laszlo Mezey, Die Handschriftenfragmente auf den Einbänden der Amtsbücher des Wiener Bürgerspitals,  Masch.schr. und hs. Kommentar zur Fragmentensammlung aus Einbänden des Bürgerspitals, datiert 13.2.1984, A-Wsa. Schusser 1986, Nr.40, 70-71.

[11] Beide Klöster bespricht Stoklaska 1986, 127-160; Perger/Brauneis 1977, 179-194.

[12] Diese Textfassung weicht von der römischen Texttradition etwas ab, findet sich jedoch auch in der westeuropäischen Überlieferung (z. B. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8447768b/f1068.item).