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Der St. Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274)

Reinhard Strohm

Der St-Emmeram-Codex der Bayerischen Staatsbibliothek (» D-Mbs Clm 14274), mit 255 Musikstücken auf 158 Blättern, ist als wichtiges Monument der mehrstimmigen Musik des 15. Jahrhunderts schon lange bekannt und wurde nun durch die Forschungen von Ian Rumbold und Peter Wright vorbildlich erschlossen.[27] Rumbold und Dagmar Braunschweig ermittelten unabhängig voneinander den Hauptschreiber und ursprünglichen Besitzer der Handschrift, den Wiener Studenten und späteren Priester Hermann Pötzlinger aus Bayreuth (ca. 1410/1415-1469; vgl. » G. Hermann Pötzlinger).[28] Peter Wright identifizierte den zweitwichtigsten Schreiber als Wolfgang Chranekker, der 1441 als Organist von St. Wolfgang am Abersee (Wolfgangssee), und 1448 als Kaplan in Regensburg bezeugt ist. Pötzlinger selbst wurde 1448 Schulrektor des Benediktinerklosters St. Emmeram in Regensburg, wo er den Rest seines Lebens verbrachte; um 1459 übergab oder vermachte er seine für damals riesige Bibliothek von über 100 Bänden an das Kloster, von wo sie im 19. Jahrhundert an die Bayerische Staatsbibliothek gelangte.[29]

Die Zeitspanne der Herstellung von Clm 14274 ist durch Wasserzeichendatierungen für die Jahre zwischen 1430/1433 und 1441 gesichert. 1436-1439 war Pötzlinger als Student der freien Künste an der Wiener Universität immatrikuliert. Er erwarb am 14. April 1439 das Baccalaureat und am 1. Mai 1439 eine Lizenz zu wahrscheinlich vorübergehender Abwesenheit, dürfte aber bald nach Wien zurückgekehrt sein.[30] Absolventen der Artistenfakultät wurden damals nach dem Baccalaureat zu Lehrverpflichtungen herangezogen, sofern sie den Magistergrad anstrebten. Der weitaus größte Teil der Musikhandschrift wurde um 1439-1440, somit höchstwahrscheinlich in Wien, geschrieben. Damals entstanden auch mehrere andere Bände von Pötzlingers Bibliothek, die den Universitätsfächern Theologie und Freie Künste (besonders Grammatik und Rhetorik) gewidmet waren. Wolfgang Chranekker arbeitete an einigen dieser Bücher Pötzlingers mit, darunter an dessen Bibel. Er notierte auch Musikstücke in » A-Wn Cod. 5094,[31] was seine Anwesenheit in Wien um 1440-1445 wahrscheinlich macht. Zu Clm 14274 trug er vor allem die drei jüngsten Faszikel mit etwa 40 Kompositionen bei, die an den Anfang bzw. das Ende der ursprünglichen Handschrift gebunden wurden. Im Jahre 1440 änderte Pötzlinger seine Notationsweise von voller („schwarzer“) zu hohler („weisser“) Notation. Chranekker und ein anderer Assistent schrieben von vornherein in der moderneren Art.

Der Inhalt von Clm 14274 ist ausnahmslos geistlich, was ihn von vielen früheren mehrstimmigen Quellen unterscheidet, darunter dem „Wiener Codex“ (vgl. Kap. Der „Wiener Codex“). Zur Messliturgie gehört mehr als die Hälfte aller Stücke; in der chronologisch ältesten Schicht der Aufzeichnungen finden sich einstimmige, aber rhythmisierte Credo- und Kyriemelodien.[32] Diese Sektion war ursprünglich wohl größer: Unmittelbar vorher scheint ein erster Faszikel zu fehlen (vermutlich mit einstimmigen Gloria-Melodien), der später durch den jetzigen ersten, von Chranekker geschriebenen Faszikel mit mehrstimmigen Kompositionen ersetzt wurde.[33] Weiterhin dominieren mehrstimmige Messordinariumssätze; daneben finden sich Introiten, Sequenzen, Offertorien (aus dem Messproprium), 9 Offiziumsantiphonen, 7 Magnificat, 24 Offiziumshymnen, einzelne Psalmintonationen und Benedicamus domino. Alles Übrige erscheint „dazwischengestreut“: Motetten, geistliche Lieder und Cantionen, dazu geistliche Kontrafakturen weltlicher Lieder, auf deren französische Originalincipits auffallend oft und deutlich verwiesen wird (z. B. „Bon iour“ als Überschrift für „Ihesu iudex veritatis“ auf fol. 23v, usw.).

[27] Rumbold/Wright 2009Welker 2006 (Haupttext von Rumbold und Wright). Vgl. auch Braunschweig 1982.

[28] Braunschweig 1982Rumbold 1982.

[29] Rumbold/Wright 2009, 201-248.

[30] Rumbold/Wright 2009, 24-31. Pötzlinger, der offenbar auch Priester geworden war, erhielt 1439 eine Pfarrei in Auerbach (Oberpfalz); weitere Benefizien konnte er später in Orten der Regensburger Region antreten.

[31] Ward 1981. Vgl. » Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“» C. Organisten und Kopisten.

[32] Vgl. » Kap. Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen» Abb. Kyrie St. Emmeram-Codex» Notenbsp. Kyrie St. Emmeram-Codex.

[33] Strohm 1983Rumbold/Wright 2009, 87-90, vermuten, dass Pötzlinger die Blätter mit einstimmigen Melodien von deren Schreiber („E“) erwarb.

[34] Hierzu vgl. » F. Europäische Musik.

[35] Details in Welker 2006, 42-48; ergänzend dazu Rausch 2014. Letzterer weist den Wiener Aufenthalt von Rudolf Volkhardt (1433-1439) nach. Zu den möglichen Zeugnissen eines lokalen „Netzwerks“ gehört vielleicht auch ein Einzelblatt mit zwei Kompositionen, darunter eine von Du Fay, im Pfarrarchiv Weitra (A-WEI), Cod. 1/7: ebda. 131-134.