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Kirchenlieder in Wiener Überlieferung

Reinhard Strohm

Die Kantoreiordnung von St. Stephan von 1460 sieht vor, dass der allgemeine Chor der Schulknaben „alles gesang, als cantum gregorianum, conducten, und auch ander gesang so zu ainer yeden hochczait gehöret“, vier oder fünf Tage lang vor jedem der Hochfeste („hochczaiten“) Weihnachten, Ostern und Pfingsten einstudieren sollte.[19] Die nicht als „cantus gregorianus“ bezeichneten Kategorien von Gesängen, die der allgemeine Chor lernen sollte, sind weniger eindeutig bestimmbar, doch sind unter „Conducten“ sicher jene Gesänge zu verstehen, die im 13. Jahrhundert als „conductus“ verbreitet waren und seit dem 14. Jahrhundert öfter als „cantiones“ bezeichnet wurden: strophische und meist gereimte, festliche Lieder. [20] Ein Beispiel ist das Weihnachtslied Nunc angelorum gloria, das im Seckauer Cantionarius von 1345 (» A-Gu Cod. 756) noch „conductus“ genannt wurde und im Moosburger Graduale von 1360 (» D-Mu Hs. 2°156) unter dem neueren Gattungsnamen „cantiones“ eingereiht ist (» A. Gesänge zu Weihnachten im Stift Seckau, Kap. Die Entstehung des Begriffes „cantio“). Wahrscheinlich sollte der Begriff „Conducten“ in der Wiener Kantoreiordnung neben lateinischen auch deutschsprachige Gesänge umfassen. Nach der Kantoreiordnung sollten die „dazu geeigneten Knaben“ auch >cantus figurativus< lernen: Zahlreiche mensurale Vertonungen geistlicher Lieder sind im » St.-Emmeram-Codex und den Trienter Codices » I-TRcap 93* und I-TRbc 88-91 erhalten. Hier sei jedoch von zwei Wiener Quellen einstimmiger geistlicher Lieder die Rede.

Die Institutionen, an denen solche Lieder einstudiert und öffentlich vorgetragen wurden, waren in der Region Österreich einerseits die Klöster und Stifte, andererseits auch Weltkirchen (»E. Kap. Das Bozner Ansingen). Gemeinsames Merkmal der Praxis war ihr Zusammenhang mit Erziehung und Schule. In Wien sind zwei frühe Quellen von „Conducten“ erhalten, die diesen Zusammenhang bezeugen dürften.

Drei Weihnachtsgesänge sind in einem Papierfragment (Fragment A.1) überliefert, das aus A-Ws Archiv Hs. 131 (Hübl 120), einer theologischen Handschrift des Wiener Schottenstifts, ausgelöst wurde und nach Heinz Ristory vermutlich noch aus dem 14. Jahrhundert stammt.[21] Die teilweise mensural zu verstehende Notation des Fragments unterscheidet zwei verschiedene Werte der Einzelnote (quadratische bzw. rhombische Noten) und verwendet dazu gestielte Noten als Auftakte.[22] Die Texte dieser Gesänge sind sonst nicht überliefert: Ihr artifizieller, mit biblischen Metaphern überladener Stil könnte aus dem Milieu einer Lateinschule (z. B. des Schottenklosters) stammen. Die erste Cantio, Rubus ignitur floridus, ist strophisch, in Virelai-Form mit dreizeiligen Stollen, einem vierzeiligen Refrain und einer den Stollen gleichgebauten Überleitung („Ergo dic, iube domine/ tu lector, benedicere/ et carmine proficere“). Der Text dieser Überleitung belegt die liturgische Bestimmung des Liedes als Lektionseinleitung in der Weihnachtsmatutin.[23] Interne melodische Wiederholungen ziehen sich durch alle Abschnitte hindurch. Das zweite Lied, Inulas merus scaturit, ist ebenfalls in Refrainform, ohne Überleitungsteil.[24] Das dritte Lied, Iam revirescunt arida, ist wieder in Virelai-Form mit Überleitung zwischen Strophe und Refrain. Die ersten beiden Lieder stehen im ersten Modus, das dritte jedoch auf C bzw. in einem transponierten 8. Modus.

Eine ebenfalls theologische Handschrift aus der alten Wiener Universitätsbibliothek, » A-Wn Cod. 4702 (ehemals Univ. 675), hat einen musikalischen Anhang, der aber nicht als Einbindematerial diente, sondern als Ganzes an den Hauptband angebunden wurde; in diesem Hauptband stehen die Daten 1398 und 1400.[25] Im Anhang finden wir drei kurze Musiktraktate (fol. 86r-88v); darauf folgen – stets in gotischer Choralnotation – Psalm- und Magnificat-Töne (fol. 88v-90v) sowie eine Sammlung von Gesängen für Festzeiten. Die Sequenz für einen Bekenner-Bischof, Ave gemma confessoris (fol. 91r) passt zum Nikolausfest, die tropierte Sanctusmelodie Rector celi zu Weihnachten. Das zweistimmige Lied Universi populi (fol. 91r) ist ebenso eine Lektionseinleitung zur Weihnachtsmatutin wie Rubus ignitur im Schottenstift-Fragment. Es folgen ein zweistimmiger Benedicamus-Tropus (Ad laudes Marie cantemus hodie), einstimmige Gesänge für St. Stephan und St. Katharina, ein dreistimmiges untropiertes Benedicamus domino, weitere Tropen und Weihnachtslieder (Puer natus in Bethlehem, Nunc angelorum gloria, Ewangelizo gaudium, Novus annus hodie, Nos respectu gracie), sowie ein Lied zu Mariae Himmelfahrt (Assumpta est hodie). Die Musikpraxis, aus der diese kleine Sammlung zu stammen scheint, ist an der Universität oder einer Pfarr- oder Klosterschule zu suchen.

[19] Mantuani 1907, 286; vgl. » Kap. Die Kantoreiordnung von 1460 und die Pflege der Mehrstimmigkeit.

[20] Zu den Inhalten der Lieder und der Gattung insgesamt vgl. » B. Geistliches Lied.

[21] Ristory 1985b. Der Hauptband ist 1418 datiert.

[22] Vgl. auch » A. Rhythmischer ChoralgesangRistory 1985b transkribiert die gestielten und geschwänzten Noten dieser Auftakte als 32tel (gegenüber Vierteln und Achteln der Hauptnoten), was musikalisch wenig Sinn ergibt: Diese Niederschrift ist nicht als orthodoxe Mensuralnotation lesbar.

[23] Vgl. Ristory 1985b, 153: Der Gang des Lektors zum Lesepult wurde traditionell mit zusätzlichen Gesängen „begleitet“, die dementsprechend „conductus“ hießen. Den drei Liedern folgt eine von Ristory nicht erwähnte Lektionseinleitung zur Weihnachtslesung, Laudem deo dicamus per secula, notiert in regulärer gotischer Choralnotation.

[24]„Inulas“ (Ristory 1985b, 162, liest „inulus“) betrifft die Alant-Pflanze „inula“, ein seit der Antike beliebtes Heilkraut, mit dem man u.a. an Weihnachten in der Steiermark die Ställe als Abwehr gegen Pest oder böse Geister ausräucherte (Wikipedia).

[25]  Detaillierte (jedoch lückenhafte) Beschreibung des Musikanhangs: Zapke 2014, 365-369. Zur Musiktheorie vgl. daneben Smits van Waesberghe 1961 (RISM B III/1), 45; Smits van Waesberghe 2003 (RISM B III/6), 86. Zur Mehrstimmigkeit » Kap. Lesungen und Lektionseinleitungen; vgl. auch Reaney 1969 (RISM B IV/2), 106-17; Rosenthal 1925, 13; Flotzinger 1989, 51.