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Kontroversen um die Herkunft der Trienter Codices 93 und 90

Reinhard Strohm

Zwei umfangreiche Musikhandschriften mit Hunderten mehrstimmiger Kompositionen, die zu den sieben „Trienter Codices“ des 15. Jahrhunderts gehören (» F. Europäische Musik), spielen in der Überlieferung der Wiener Kirchenmusik eine Rolle. Es sind die Handschriften Trient 93 (» I-TRcap 93*, eigentlich B.L.) und Trient 90 (» I-TRbc 90 = 1377). Der Hauptteil von Trient 93 (Tr 93-1) ist eine geordnete Sammlung von Vertonungen des Messpropriums und Messordinariums und wurde im Wesentlichen von zwei Schreibern um 1451-1454 notiert (» I-TRcap 93*: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik.) Diesen Hauptteil kopierte Johannes Wiser aus München, der 1455 als succentor (Gehilfe des Schulrektors) am Dom von Trient auftaucht, um 1453-1456 in einen neuen Band, Trient 90 (Tr 90-1).[38] Wiser und andere Kopisten fügten wenig später weitere Kompositionen am Ende beider Bände hinzu (Tr 93-2 bzw. 90-2).[39]

Eine Verbindung dieser Musikhandschriften mit Wien sah die ältere deutschsprachige Forschung vor allem in der Person von Johannes Hinderbach, Bischof von Trient 1465-1486, der nach mehrjährigem Wirken im Wiener Raum am 5. Oktober 1455 auf Vorschlag von Erzherzog Siegmund von Tirol zum Dompropst von Trient ernannt worden war. Wahrscheinlich aber residierte Hinderbach als Dompropst (1455-1465) noch nicht in Trient; selbst der damalige Bischof Georg Hack (1444-1465) verbrachte auf Grund von Konflikten mit der Trienter Bürgerschaft mehrere Jahre an anderen Orten der Diözese. Italienische Forscher betonten, dass zumindest die Handschriften Trient 90, » 88 und » 89 wegen der autoritativen Mitwirkung Johannes Wisers in Trient selbst entstanden sein müssten.[40] Dieses unabweisbare Argument verhindert freilich nicht, dass die Musik von anderswoher über Zwischenvorlagen nach Trient gelangt sein kann.

Wasserzeichenforschung ergab, dass das Papier der Handschriftenteile Tr 93-1 und 90-1 in den Trienter Codices sonst nicht vorkommt,[41] was entweder durch zeitliche Differenz bedingt sein oder auf fremde Herkunft deuten könnte. Peter Wright hat die Verbreitung dieser Papiere weiter erforscht: Die Wasserzeichen von Tr 90-1 konnte er fast ausschließlich in Süddeutschland nachweisen.[42] Dies führte ihn zu der These, Wiser habe Tr 93-1 in seiner Heimatstadt München kopiert, bevor er 1455 nach Trient berufen wurde. Unter dieser Voraussetzung hätte Wiser die Vorlage (Tr 93-1) zusammen mit der Kopie (Tr 90-1) an seinen neuen Trienter Arbeitsplatz mitgenommen. Ein anderer an der Niederschrift beider Codices beteiligter Schreiber wäre mitgereist. Wisers Vorlage, Tr 93-1, hätte sich um 1453-1455 in München befunden und wäre vielleicht auch dort entstanden;[43] trotzdem hätte man Wiser während oder nach der Kopienahme erlaubt, mitsamt dem noch ziemlich neuen Original davonzureisen (»Kap. Die Entstehung von Trient 90 nach Peter Wright).

Viel einfacher ist die Kopienahme an dem Ort zu vermuten, an dem sich sowohl das Original als auch die Abschrift heute befinden: Trient. Wiser kann Tr 93-1 dort bei seiner Ankunft vorgefunden haben. Die Motivation zu seiner Abschrift dürfte dann gewesen sein, eine Musiksammlung anzulegen, die seiner weiteren Karriere nützen würde.[44] Dass er die erhoffte Schulrektorstellung in Trient selbst erreichen sollte (1458) – weshalb seine Abschrift dort verblieben ist – konnte er damals noch nicht wissen.

Rudolf Flotzinger lehnte die „München-These“ aus methodologischen Gründen ab (Papiersorten wurden im Handel weit verbreitet) und schloss aus dem liturgischen Inhalt von Trient 93 auf dessen Bestimmung für St. Stephan in Wien.[45] Flotzinger vermutet, dass der 1455 erstmalig belegte Trienter Schulrektor Johannes Prenner – Wisers damaliger Vorgesetzter – mit einem in Wien seit 1446 belegten Kleriker Johannes Prenner aus Braunau identisch sei. Wiser selbst sei mit einem 1454 im Herbstsemester an der Universität immatrikulierten „Johannes organista de Monaco“ gleichzusetzen (was schon früher vermutet worden war).[46]

Das von Giulia Gabrielli entdeckte Bozner Fragment, das von denselben Kopisten geschrieben ist wie Tr 93-1 (» F. SL Das Bozner Fragment), wurde von Flotzinger noch nicht berücksichtigt. Es enthält, verblüffend genug, nur Kompositionen des Stundengebets (Antiphonen, Hymnen) sowie weltliche Musik, ist also inhaltlich ein Gegenstück zu Tr 93-1, mit dessen Papier es sogar ein Wasserzeichen gemeinsam hat. Kann Bozen der gemeinsame Herkunftsort von Tr 93-1 und dem Bozner Fragment sein?

Eine Hypothese der Entstehung und Bestimmung dieser Handschriften, die alle derzeit erreichbaren quellenkundlichen, liturgischen und kulturhistorischen Fakten berücksichtigt und die Hypothesen Wrights und Flotzingers entkräftet bzw. modifiziert, wird in » K. I-TRcap 93*: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik vorgelegt.

[38] Das Kopieverhältnis ermittelte  Bent 1979 und Bent 1986. Unter „Band“ sei hier auch ein vielleicht ungebundenes Konvolut verstanden, das aber als zusammengehörig behandelt wurde. Wasserzeichendatierungen nach Wright 1996 und Wright 2003; vgl. auch Saunders 1989.

[39] Gozzi 1992 ediert und beschreibt die Kompositionen in Tr 90-2.

[40] Die Forschungsdiskussion ist ausführlich dargestellt bei Wright 2003, 247-251.

[41] Saunders 1989Wright 1996.

[42] Wright 1996Wright 2003.

[43] Letzteres ist auch nach Wrights eigenem methodischem Ansatz unwahrscheinlich, da er die Papiere des Hauptteils von von I-TRcap 93* (Tr 93-1) fast nur in Tirol (Nord und Süd) nachweisen konnte.

[44] Strohm 1984Strohm 1993. Vgl. » Kap. Zu Repertoire und Verwendung des St. Emmeram-Codex.

[45] Flotzinger 2014. Vgl. Diskussion und Kritik von Flotzingers These in » Kap. War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?

[46] Zuerst vermeldet bei Pietzsch 1971, 186 nach Matrikel II, 1967: 1454/II R 47.