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Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices (ca. 1450-1460)?

Reinhard Strohm

Die mittleren Trienter Codices (» I-TRcap 93*, I-TRbc 90 und I-TRbc 88) spielen in der Überlieferung der Wiener Kirchenmusik dann eine Rolle, wenn ihr Inhalt glaubwürdig mit Wiener Institutionen verbunden werden kann (vgl. Kap. Kontroversen um Tr 93 und Tr 90) – wenn auch nicht unbedingt als Bestimmungsort der Niederschriften, so doch vielleicht als früherer Aufführungsort oder gar Entstehungsort der Musik.

Tr 93-1 (der Hauptteil von I-TRcap 93*) überliefert 217 Kompositionen des Messpropriums und Messordinariums (7 Messantiphonen, 61 Introiten, 39 Kyries, 38 Glorias, 15 Sequenzen, 25 Credos, 20 Sanctus und 12 Agnus Dei). Johannes Wiser replizierte die Sammlung in Tr 90-1, wobei er die Sequenzvertonungen ausließ. Die Anordnung der Gesangsgattungen entspricht dem Ablauf der Messfeier, und innerhalb der einzelnen Gattungen dem Graduale und Kyriale: Die Sammlung als Ganzes war sicher für den Gottesdienst bestimmt. Die für damals außergewöhnliche Zahl der Messensätze, und das Zusammenhäufen oft mehrerer Vertonungen derselben Introitus-Texte (es gibt z. B. sieben verschiedene „Resurrexi“, fünf „Spiritus domini“, vier „Terribilis“) deutet auf eine musikalisch führende Institution als Bestimmungs- oder Herkunftsort: am ehesten die Hofmusik König Friedrichs III., deren Hauptstandorte außerhalb Wiens lagen. Die Pflege polyphoner Introiten und Sequenzen für Hochämter ist in älteren, mit Habsburg zusammenhängenden Quellen (» Codex Aosta (I-AO), » I-TRbc 87 und » I-TRbc 92) belegt; mit diesen hat Tr 93-1 relativ viele Konkordanzen.

Aber schon um 1440 wurden auch im Wiener universitären bzw. städtischen » St. Emmeram-Codex 15 Introitusvertonungen und 12 Sequenzen gesammelt. Da diese Gattungen zu Festtagen bestimmter Heiliger gehören (verzeichnet im Sanctorale bzw. Commune sanctorum), lässt sich ihr Gebrauch unter Vorbehalt auf Institutionen beziehen. Nach Rudolf Flotzinger käme für Trient 93 die Kantorei von St. Stephan in Frage; auch seien Festmessen für die Schutzpatrone der Wiener Universitätsfakultäten (Katharina, Cosmas und Damian, Apostel Johannes, Ivo) mit diesem Repertoire gut ausführbar.[47] Jedoch sind die vorhandenen Introiten und Sequenzen für jeweils mehrere Feste geeignet, oder die angesprochenen Heiligen sind allgemein beliebt (wie etwa im Fall der Katharinensequenz Sanctissime virginis, fol. 206v-207r): Die Stücke müssen also nicht unbedingt für Wiener Verhältnisse kopiert worden sein.

Der repertoriale Zusammenhang zwischen Tr 93-1 (und dessen Abschrift, Tr 90-1) und dem St. Emmeram-Codex ist eigentlich schwach: die 22 gemeinsamen Stücke sind mit drei Ausnahmen auch in den älteren habsburgischen Quellen vorhanden. Die Ausnahmen sind Edlerawers Sequenz „Lauda Sion Salvatorem“ (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer), dem letzten Stück des heutigen St. Emmeram-Codex, und zwei Kyries, deren eines von Petrus Wilhelmi stammt.[48]

Codex Trient 93 entstand mehr als ein Jahrzehnt später und enthält dementsprechend viel Musik vermutlich neueren Ursprungs. So sind 21 der 39 Kyries von Tr 93-1 und Tr 90-1 nicht in älteren Quellen vorhanden: Woher kamen sie?[49] Einige der in den Kyries verarbeiteten Choralmelodien könnten regionale Vorlieben reflektieren – allerdings ergibt sich gerade hier kein besonderer Zusammenhang mit Wien oder St. Stephan (vgl. » K. I-TRcap 93*).

Überraschender sind die zahlreichen Gloria-, Credo-, Sanctus- und Agnus Dei-Vertonungen über entlehnte cantus firmi („Fremdtenores“), mit denen Tr 93-1 geradezu ein neues Kapitel kontinentaler Messpolyphonie eröffnet. Denn diese in älteren Quellen gar nicht überlieferten Vertonungen stammen aus mindestens acht Messordinariumszyklen, deren Einzelsätze hier nur zertrennt aufgezeichnet wurden, und etwa zehn weiteren Gloria-Credo oder Sanctus-Agnus-Paaren. (Die Kyries von Tr 93-1 gehören nicht zu den Messzyklen und verwenden keine Fremdtenores.) Die Gattung des Ordinariumszyklus über Fremdtenor („cantus-firmus-Messe“) wurde um 1420-1440 in England entwickelt; in Tr 93-1 sind mehrere Zyklen oder Satzpaare englischer Herkunft ermittelbar.[50] Schon die ersten vier Zyklen der Sammlung – der erste ist die berühmte Missa Caput – stammen aus England; sie bilden mit den folgenden zwei niederländischen Zyklen eine Gruppe.[51] Von anderen westeuropäischen Komponisten, z. B. Du Fay, stammen etwa 10 weitere Messensätze. Eine Wiener Beteiligung an diesem Repertoire ist bei den Kompositionen bisher unbekannter Herkunft zu vermuten (alle Sätze sind anonym aufgezeichnet). Für einige davon wurde bereits regionale Herkunft vorgeschlagen.[52] Nicht nur die Hofmusik, sondern auch St. Stephan oder die Universität kämen dann als Entstehungsorte in Betracht.

Musik Wiener Herkunft scheint um 1450-1460 nicht nur in Trient 93 und Trient 90 (sowie im Bozner Fragment: » F. SL Bozner Fragment) vorzuliegen, sondern höchstwahrscheinlich auch in Trient 88; dieser Riesenband (mit 310 Kompositionen) wurde um 1456-1462 von Johannes Wiser in Trient geschrieben. Vieles dort Aufgezeichnete dürfte, oder muss sogar, zu bestimmten Zeiten in Wien erklungen sein (vgl. » E. Kap. Festlichkeiten). Jedoch ist bei dem zunehmend internationalen Repertoire zuerst vom Hof als wahrscheinlichstem Vermittler auszugehen. Bedeutende Neuerungen in der Gattungsauffassung, die in Tr 88 erstens in Niederschriften vollständiger Ordinariumszyklen, zweitens in zahlreichen Propriumszyklen zu Tage treten (» F. Geistliche Musik), können in Wiener Kirchen mitvollzogen worden sein.

[47] Flotzinger 2014, 44-45, 54-55.

[48] Zu Edlerawer vgl. » G. Hermann Edlerawer» E. Musik im Gottesdienst. Zu Wilhelmi vgl. » F. Musiker aus fremden Ländern.

[49] Die Kyries von » I-TRcap 93* sind bei Chemotti 2014 ediert und kommentiert.

[50] Vgl. Strohm 1985» F. Europäische Musik.

[51] Diese Gruppe dürfte um 1452 aus Ferrara importiert worden sein: Strohm 1993, 242.

[52] Strohm 1985.