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Choralbücher aus Pfarren und Kapellen

Reinhard Strohm

Die Stadt Wien gehörte damals zur Diözese Passau in der Kirchenprovinz Salzburg; das gottesdienstliche einstimmige Choralrepertoire entsprach dieser Zuordnung. Somit sind mögliche Wiener Gradualien und Antiphonalien – d.h. mit Musiknotation versehene Choralbücher – in heutigen Bibliotheken als zum „Passauer“ Usus gehörig klassifizierbar, ohne Rücksicht auf den genauen Ort ihrer Verwendung, der nur von Quelle zu Quelle individuell bestimmbar ist. Obwohl 1469 eine eigene Wiener Diözese genehmigt und seit 1480 auch verwaltet wurde, hat sich danach am Passauer Choralrepertoire kaum etwas geändert; unter den wenigen lokalen Neuschöpfungen waren neukomponierte Gesänge zum Fest des 1485 kanonisierten Hl. Leopold (» F. Lokalheilige; » F. SL Leopold-Motette). Ein „Passauer“ Choralbuch ist das 1511 von Johannes Winterburger in Wien gedruckte » Graduale Pataviense, dessen Inhalt insofern, als er von älteren handschriftlichen Codices abweicht, nicht unbedingt auf Wiener Lokaltraditionen bezogen werden muss.[3]

Ein weiteres Zuordnungsproblem besteht bei der Unterscheidung zwischen Choralbüchern aus Klöstern und aus Weltkirchen (wie z. B. Pfarrkirchen): Obwohl sich der Ritus der Weltkirchen und auch der Bettelorden vom monastischen Ritus unterschied, wurden viele an Pfarrkirchen und Privatkapellen gebrauchte Bücher in Klöstern und Stiften angefertigt und zeigen bisweilen diese Beeinflussung. Ein Beispiel ist ein fragmentarisches Graduale aus dem 15. Jahrhundert, » A-Wn Cod. 13713 der österreichischen Nationalbibliothek, dessen Geschichte Robert Klugseder ermittelt hat.[4] Es wurde wahrscheinlich jahrhundertelang in der Pfarre Perchtoldsdorf gebraucht, dürfte aber in einem Augustiner-Chorherrenstift (St. Pölten? Klosterneuburg?) hergestellt worden sein. Es ist eines der seltenen weltkirchlichen Choralbücher aus dem Wiener Umland, das aus dieser Epoche erhalten ist. Ein Antiphonale aus der Zeit um 1400, das seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Maria-Magdalena-Kapelle neben dem Stephansdom gewesen war und sich heute in Ungarn befindet (Győr, R.K. Seminarium, Ms. A. 2), ist vom Choralrepertoire her ebenfalls als augustinisch klassifiziert worden, jedoch zu weltkirchlichem Gebrauch bestimmt.[5] Es könnte aus dem Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien gestammt haben. Vom Stephansdom selbst existiert kein eindeutig identifizierbares mittelalterliches Graduale oder Antiphonale mehr, obwohl die Messliturgie in dem berühmten „Turs-Missale“ des Domkapitels (um 1430) und dem Liber ordinarius » A-Wn Cod. 4712 (» E. Musik im Gottesdienst) zumindest textlich überliefert ist.[6]

[2] Die in » E. Musikbücher der Universität erwähnten Signaturen beziehen sich z. T. auf Handschriften, die Musiktheorie oder andere verbale Hinweise auf Musik enthalten, oder deren Verbindung zu Wien derzeit nicht festgelegt werden kann. Zu anderen Wiener Musikhandschriften und -fragmenten des 15. Jahrhunderts vgl. » C. Ars antiqua und Ars nova» C. Medien mehrstimmiger Vokalmusik» E. Musiker an der Universität» F. Europäische Musik im Raum Österreich» K. Musikalische Quellenporträts.

[3] Winterburger 1511 (Faksimile- Edition: Väterlein 1982).

[4] Klugseder 2014, 203-207.

[5] Schusser 1986, Nr. 33, 68-69 (Hartmut Möller).

[6] Zum Turs-Missale vgl. Schusser 1986, Nr. 56, S. 79; Flotzinger 2014.