Schlaglicht: Die Motette O propugnator miserorum auf den hl. Leopold
In der Musikhandschrift » D-Mbs Mus. ms. 3154, dem Chorbuch des Innsbrucker Magisters Nicolaus Leopold (fol. 148v–150r), ist als Unikum eine vierstimmige Motette auf den hl. Leopold (Markgraf Leopold III., gest. 1136) überliefert, die um 1485 dort notiert wurde und vermutlich um diese Zeit entstanden ist. Von ihrer Überlieferung her zu schließen, dürfte sie im Zuge derselben neuen Leopoldverehrung komponiert worden sein, der auch die im Rahmen der Kanonisation 1485 geschaffenen einstimmigen Offizien- und Messgesänge zu verdanken sind (» F. Lokalheilige). Das Merkwürdige jedoch ist, dass die Motette einen Text hat, der in keiner der liturgischen Quellen vorkommt, dass sie also nicht eine mehrstimmige Bearbeitung einer Choralmelodie ist, wie es sonst so häufig war. In der Tat ist der Text seiner Länge und Irregularität wegen mit keiner damaligen liturgischen Gattung vereinbar. Er wurde also wahrscheinlich zum Zwecke der mehrstimmigen Vertonung geschrieben. Der Textinhalt ist ein Gebet an den hl. Leopold, das vielleicht als gesprochener Gebetstext im Gottesdienst Verwendung gefunden haben könnte. Der Text lautet:
O propugnator miserorum,
o consolator afflictorum,
Leopolde pie marchio,
[Zeile fehlt]
ut ei non preesse sed benigne
prodesse curares,
teque eius ad bene
beateque vivendi normam prebuisti.
Thesauros adeo justa
dei indictione dispensasti,
ut post prolis tue fecunditatis
benedictionem etiam supernorum
in celis constitui meruisti.
Ubi infinitis tuo nomini devotis
adversorum dolorum et egritudinis oppression
liberationem imprecasti
et salutem nullique in angustia
et necesssitate constituto
ad te clamanti salutari tua intercessione defuisti.
O Vorkämpfer der Unglücklichen,
O Tröster der Verzweifelten,
Leopold, frommer Markgraf:
[Du hattest so viel Erbarmen mit deinem Volk],
dass du dich bemühtest, ihm
nicht vorzustehen, sondern freundlich beizustehen,
und ihm ein Beispiel gabst, wie es
gut und glücklich leben sollte.
Deine Schätze hast du nach Gottes gerechter
Weisung so weitgehend verschenkt,
dass nach der Verehrung deiner vielen Nachkommen
du auch einen Platz unter den Himmlischen verdient hast,
Dort hast du für die Unzähligen, die deinem Namen huldigen,
vom Druck böser Schmerzen und Krankheiten
Befreiung erbeten und Heilung,
und hast niemandem, der in Bedrängnis
und Notdurft gefangen war,
wenn er zu dir rief, deine Fürbitte versagt.
Die Musik der Motette hat einen ganz besonderen Charakter. Sie entbehrt fast völlig der damals üblichen Imitationstechnik und ergeht sich stattdessen in vielen deklamierenden Tonwiederholungen, die oft von allen Stimmen homophon ausgeführt werden. Diese fast an die späteren italienischen falsobordoni erinnernden Abschnitte bringen die Worte deutlich zur Geltung. Oftmals wird man an gebetsartiges, chorisches Sprechen erinnert. Andererseits ist der Satz immer wieder durch geringstimmige Passagen aufgelockert, was mehr dem franko-niederländischen Stil der Zeit um 1470–1500 entspricht. Bei den in dieser Zeit einflussreichsten Komponisten wie Isaac, Josquin oder Obrecht findet man diese Stilkombination selten; vielleicht wären die damals in Italien tätigen Komponisten Gaspar van Weerbeke oder Johannes Martini als Vorbilder unseres möglicherweise österreichischen Komponisten vorstellbar. Der Kopist der Motette im Leopold-Codex stand dem Komponisten jedenfalls fern: Er war nicht in der Lage, die Worte sinnvoll zu unterlegen und hat den ganzen zweiten Teil der Komposition textlos gelassen. (Dies steht der Vermutung im Wege, die Niederschrift der Motette im Codex habe etwas mit dem Familiennamen des Besitzers zu tun.) In der Einspielung durch das Ensemble Stimmwerck (» Hörbsp. ♫ O propugnator) ist die Textunterlegung rekonstruiert; der zweite Teil musste ganz weggelassen werden.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „Die Motette O propugnator miserorum auf den hl. Leopold“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-die-motette-o-propugnator-miserorum-auf-den-hl-leopold> (2016).