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War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?

Reinhard Strohm

Rudolf Flotzinger hat vorgeschlagen, dass die Handschrift Trient 93 (I-TRcap 93*) – in ihrer Gesamtheit oder jedenfalls ihr Hauptteil – in Wien für die Kollegiatkirche St. Stephan angefertigt wurde.[21] In ihrem vollen Umfang (2014) begründet er diese These mit dreierlei Argumenten: Erstens mit der Ablehnung von Peter Wrights geographischen Schlussfolgerungen aus Papiersorten,[22] zweitens mit einer liturgischen Analyse des Repertoires von Trient 93,[23] und drittens mit Daten und Vermutungen zum Werdegang der Trienter Kleriker Johannes Wiser und Johannes Prenner, die vielleicht beide vor 1455 in Wien lebten.[24]

Der zweiten Gruppe von Argumenten muss widersprochen werden. Zwar betont Flotzinger zu Recht den planvollen Charakter der Messensammlung Tr 93-1, die gleichsam den Inhalt von Graduale und Kyriale (d.h. Choralhandschriften) nachahmt und dadurch den Versuch ermutigt, ihren Bestimmungsort von den gewählten liturgischen Texten abzulesen.[25] Jedoch genügt es nicht, die Kompatibilität der hier vorhandenen liturgischen Musik mit dem Ritus von St. Stephan festzustellen, da sie für andere Kirchen ebensogut geeignet sein könnte, was nur durch einen breiteren Vergleich verifiziert werden kann. Ein Vergleich des Inhalts von Tr 93-1 mit 19 regionalen Choralquellen (» Kap. Choralquellen und Tr 93-1) erbringt sogar deutliche Argumente gegen St. Stephan als Bestimmungsort.

[21] Flotzinger 2004, 197 f.; Flotzinger 2014.

[22] Flotzinger 2014, 39-41.

[23] Flotzinger 2014, 42-55.

[24] Flotzinger 2014, 54-63; dazu vgl. » Kap. Identitäten.

[25] Zur (bedingten) Analogie zwischen Polyphoniesammlungen und Choralquellen vgl. Strohm 1996.