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Zum Repertoire von Trient 93

Reinhard Strohm

Die Messensammlung Tr 93-1 (vgl. »Abb. Musikgattungen in Codex Trient 93) ist einzigartig durch ihre 61 Introiten. Polyphone Vertonungen dieser Propriumsgattung wurden in den 1430er Jahren an der königlichen Hofkapelle Sigismunds sowie am Konzil von Basel eingebürgert (z.B. durch Johannes Brassart); auf diese von den Habsburgern weitergeführte Praxis verweisen die Introiten in den Handschriften Aosta ( » I-AO Cod. 15), Trient 87 und 92 und St. Emmeram (» D-Mbs Clm 14274), mit denen Tr 93-1 zehn Konkordanzen hat.[40] Dass hier aber viele neue Vertonungen dazukommen, könnte auf eine neue Bestimmung des Repertoires hinweisen. Bei den Kyriesätzen sind Konkordanzen mit den genannten Handschriften zahlreicher: Man schöpfte aus einem Fundus von Messpolyphonie, der vor allem habsburgischen Institutionen zur Verfügung stand.

Nur drei der (sämtlich anonym aufgezeichneten) 15 Sequenzvertonungen sind in älteren Quellen auffindbar: ein Sancti spiritus assit, Du Fays Lauda Sion und ein Lauda Sion (fol. 226v) von Hermann Edlerawer (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer). Das Letztgenannte steht mit Zuschreibung im St. Emmeram-Codex (Nr. 255) und dürfte zu Wiener städtisch-kirchlichem Repertoire gehören. Dasselbe gilt vielleicht für ein Kyrie von Petrus Wilhelmi (fol. 94v; St. Emmeram Nr. 13). Doch sei die Wiener Verbindung nicht überschätzt, da Konkordanzen mit Pötzlingers Handschrift meist auch im habsburgischen Repertoire zu finden sind (» Kap. Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices?). Petrus Wilhelmi diente bei Kaiser Friedrich III. (vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern).

Anders steht es mit den übrigen Sätzen des Messordinariums vom Gloria bis zum Agnus Dei. Sie sind mehrheitlich über fremde cantus firmi komponiert; viele gehörten zu ursprünglichen Ordinariumszyklen, die in Tr 93-1 in Einzelsätze bzw. Sanctus-Agnus-Paare zerteilt aufgeschrieben sind.[41] Die ursprünglichen Kyries dieser Zyklen sind nicht mitüberliefert: Nach Margaret Bent hat Schreiber „A“ die Kyriesammlung offenbar angefertigt, bevor (durch Schreiber „B“?) zahlreiche über cantus firmi komponierte Messzyklen verfügbar wurden.[42]

Viele dieser Ordinariumsvertonungen in Tr 93-1 stammen aus Westeuropa, oft aus England. Obwohl sie in der Mehrzahl anonym aufgezeichnet wurden, sind zwölf Komponisten feststellbar: die Engländer Benet, Dunstaple, Power, Soursby und de Anglia [?]; die Franzosen/Niederländer Du Fay, Binchois, Lantins, Puilloys, Loqueville, Brassart und Franchois. Westeuropäischer Einfluss in der Messkomposition (u.a. vermittelt durch das Basler Konzil) war schon in den habsburgisch beeinflussten Handschriften Aosta und Trient 87 und 92 prominent.[43] Konkordanzen mit diesen älteren Quellen sind bei den cantus-firmus-Kompositionen von Tr 93-1 jedoch sehr selten. Die ersten sechs hier zerteilt aufgeschriebenen Messzyklen, beginnend mit der berühmten englischen Missa Caput, scheinen um 1452 aus Ferrara an den Habsburgerhof gekommen zu sein.[44] Andererseits dürften drei Zyklen oder Satzpaare aus der böhmisch-österreichischen Region stammen, und etwa fünf weitere könnten ebenfalls regionaler Herkunft sein.[45] Die Messzyklen repräsentieren auch musikalisch einen Neuanfang in der Region.

Von woher auch immer das Repertoire von Trient 93 und Trient 90 zusammengekommen ist: Am Ort der Niederschrift müssen mehrere verschiedenartige Musikvorlagen existiert haben und weiterhin verfügbar geblieben sein.[46] Selbst die umfangreiche Sammlung von Messzyklen in Tr 93-1 war wohl Auswahl, wie das Vorkommen versprengter Teile dieser Zyklen in den Codices Trient 87 und 88 nahelegt.

Der Schlussteil von Trient 93 (Tr 93-2), der zeitgleich mit dem Anfang von Trient 90 von anderen Kopisten geschrieben wurde, ergänzt das Programm des Hauptteils: Diese drei Lagen (XXXI-XXXIII) sind eine Art mehrstimmiges Hymnar,[47] untermischt mit weltlichen Liedern und Cantionen: alles Gattungen, die in Tr 93-1 fehlten, aber in Trient 90 nicht mehr dupliziert wurden.

[40] Zum polyphonen Introitus-Repertoire vgl. Dangel-Hofmann 1975; zur Gattungsgeschichte vgl. auch Strohm 2011.

[41] Übersicht in Strohm 1985, 17.

[42] Bent 1986, besonders 97.

[43] Strohm 1985Bent 1986Wright 1986.

[44] » Kap. Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices?Strohm 1985, 24-26; Bent 1986, 89-90. Zu Puyllois und anderen westeuropäischen Komponisten vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern.

[45] Strohm 1985, 27-32.

[46] Vgl. besonders Bent 1986.

[47] Dazu Flotzinger 2014, 51-53.