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Der Auftraggeber von Tr 93-1 und BZ?

Reinhard Strohm

Georg Hack von Themeswald, aus schlesischem Adel, verdankte seine persönliche Karriere und die seiner ganzen Familie den Habsburgern.[83] Sein Bruder Happo (oder Happi) war Erzherzog Siegmunds Hauptmann an der Etsch, somit der Landeshauptmann der Tiroler Regierung südlich des Brennerpasses. Sein Bruder Konrad wurde Burghauptmann des Trienter bischöflichen Castello del Buonconsiglio. In der Stadt Trient selbst hatte Bischof Hack lange mit Widerstand zu kämpfen und musste seit 1448 im „Exil“ auf der Burg Nano residieren, bevor er 1451 wieder in das Castello del Buonconsiglio zurückkehren konnte. Öfters befand sich Georg Hack, das „Werkzeug des Herzogs im Land an der Etsch und im Gebirge“ (E. Curzel), um diese Zeit am Hof in Innsbruck oder in Bozen, wo ein bischöflicher Palast existierte, der zeitweise auch vom Tiroler Erzherzog benutzt wurde. Die renovierte Burg Runkelstein bei Bozen wurde 1463-1465 Wohnsitz des Bischofs während eines abermaligen „Exils“.[84] Es mag Zufall sein, dass Hack in den Jahren 1453-54 mit der Reform des Augustinerstifts Bozen-Gries befasst war[85]– eben jenes Klosters, in dem das Musikfragment BZ gefunden wurde (» Kap. Das Fragment BZ).

Der Umstand, dass der Inhalt von BZ das Messenrepertoire von Tr 93-1 durch Vesperantiphonen ergänzt, deutet auf eine konzertierte Aktion: die Anfertigung einer polyphonen „Gesamtliturgie“ in zwei parallelen Bänden.[86] Ein solcher Plan ist nicht von der Initiative eines untergeordneten Klerikers wie Johannes Wiser zu erwarten und übersteigt wohl auch den Gebrauch einer Pfarrschule – selbst den der damals blühenden Marienpfarrkirche in Bozen (» E. Bozen). Allerdings müssten zumindest die drei Hauptkopisten „A“, „B“ und „X“ am gleichen Ort tätig gewesen sein. Die Untersuchung der Messliturgie in Tr 93-1 (» Kap. Drei liturgische Tests) hat ergeben, dass die Sammlung zwar vielleicht in Tirol (wegen St. Afra) hergestellt wurde, jedoch weder für einen bestimmten Tiroler Diözesangebrauch noch für die Diözese Trient gedacht war und dass ihre liturgischen Vorlagen eher in der Diözese Passau zu suchen sind.[87] Diese Orientierung, und die nachgewiesene Präsenz von habsburgischem und Wiener Repertoire, erklären sich am besten mit der Auftraggeberschaft von Georg Hack, dem Vertreter habsburgischer Interessen als Bischof von Trient. Georg selbst, oder einer seiner Brüder, nahm 1452 an den großen Wiener Festlichkeiten teil, die die Wiener dem jungen König Ladislaus Postumus zu Ehren veranstalteten, wobei Musik von St. Stephan, der Universität und des Hofes zur Aufführung gekommen sein muss, und bei denen u.a. auch Magister Conrad Paumann aus München zugegen war.[88]

Hieraus ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Bestimmungsort der Handschrift Trient 93: Sie war für Georg Hacks bischöfliche Privatkapelle im Castello del Buonconsiglio gedacht. (» Abb. Cappella vecchia, Castello del Buonconsiglio). Wie erwähnt, konnte Georg Hack nach seinem ersten „Exil“ im Jahre 1451 in diese bischöfliche Burg einziehen und seine dort befindliche Privatkapelle in Besitz nehmen. (» D. Musik in der Burg.)

 

 

Die Messenhandschrift I-TRcap 93* sollte dem umkämpften Kirchenfürsten – bald nach seiner Ankunft in Trient 1451 – eine örtliche geistliche Repräsentation verschaffen, die vom Trienter Diözesanritus ebenso exempt war wie er selbst: Die Vermeidung von Diözesanritual in der Handschrift passt zur Identität eines Reichsfürsten und seiner privaten Burgkapelle.[89]

Es scheint, dass Trient 93 anschließend auch den Bedürfnissen der Domschule (jedoch nicht unbedingt dem Gesang im Hochchor) zugänglich gemacht wurde. Der Bischof musste für seine eigene Kapelle wahrscheinlich ohnehin Sänger der Domschule anfordern; Johannes Wisers Kopistenarbeit und Mitwirkung als Sänger könnte mit diesen neuen Bedürfnissen zu tun haben. Genauer zu erforschen ist, ob auch die musikalischen Anhänge in Trient 93 und 90 für die Bischofskapelle oder für die Domschule bestimmt waren. Die Anfertigung der ursprünglichen Handschriften Tr 93-1 und BZ, die ziemlich sicher in die Jahre 1451-1454 fällt, dürfte Musikern aus Wien, aus dem Patronatskreis Georg Hacks und vielleicht Erzherzog Siegmunds zuzuschreiben sein.[90] Der Ort der Niederschrift ist nach wie vor unklar, doch kommt neben Trient der bischöfliche Palast in Bozen sehr in Frage, weil man hier Behinderung durch Trienter Konflikte vermeiden konnte. Von den Hauptkopisten beider Handschriften ist nur Kopist „X“ in den von Wiser verantworteten Teilen (Tr 93-2 und Tr 90) weiterhin vertreten, aber nicht „A“ und “B“: Haben sie nur in Bozen gearbeitet? Vielleicht ist die Handschrift BZ dort liegengeblieben, oder sie gelangte nach Trient und wurde auf einem späteren Besuch des Bischofs nach Bozen gebracht.

[83] Zu Hacks Biographie vgl. Schnitzer 1826, 243-254; Vareschi [1991]Gozzi 1994, 136-137; Curzel 2000Rando 2008.

[84] Curzel 2000, mit weiteren Informationen zum Verhältnis Hack-Siegmund. Zu Bozener Aufenthalten vgl. auch Bonelli 1762, Bd. III, 256 (für 1447), und Obermair 2008, Regest 1449, VI 15. Weitere Aufenthalte sind um 1453 archivalisch bezeugt.

[85] Schnitzer 1826, 248-249.

[86] Zu meiner Vermutung, eine Kombination von polyphonem Graduale und Vesperale habe es kurz zuvor in Ferrara gegeben, deren polyphoner Messenband jedoch verschollen sei, vgl. Bent 1986, 89.

[87] Dass Bozen zur Diözese Trient gehörte, ist lokalen Choralbüchern nicht oder kaum anzumerken: vgl. Gozzi 2012; zu anderen Choralquellen der Diözese ausführlich Saunders 1989, 109-349.

[88] Vgl. » E. Städtisches Musikleben. In Wien belegte Organisten wie Johannes organista de Monaco und Johannes Götz de Norimberga (» Notenbsp. Vil liber zit Jo.Götz) könnten aus dem Umkreis Paumanns damals nach Wien gekommen sein.

[89] Drei oft erwähnte Musikstücke der Trienter Codices (vgl. z.B. Saunders 1989, 152-153) sind Begrüßungshuldigungen an Bischof Hack: das Kontrafakt Pour l’amour/Imperitante Octaviano (Tr 90, fol. 463v), das Kontrafakt Lauda Sion/Advenisti (Tr 88, fol. 336v-337r) und – ohne Namensnennung – ein weiteres Advenisti desiderabilis (Tr 88, fol. 250v-251r). Erstgenanntes Stück könnte sich auf eine relativ frühe Ankunft des Fürsten bezogen haben, etwa 1451. Zu diesen und vergleichbaren Stücken vgl. » D. Musik in der Burg.

[90] Vgl. » D. Hofmusik. Innsbruck unter Herzog Siegmund.