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Die Arbeit der Kopisten an Trient 93

Reinhard Strohm

Tr 93-1 ist im Wesentlichen von zwei Kopisten geschrieben.[48] Kopist „A“ leistet zunächst die Hauptarbeit; „B“ trägt einiges zusätzlich ein, darunter Textunterlegungen zu den Notenkopien von „A.“ Beginnend mit den Ordinariumszyklen (fol. 126v-) gleicht sich dieses Verhältnis langsam aus.[49] In Tr 93-2 ist Lage XXXI einheitlich von „D“ beschriftet, der sonst im Band nicht erscheint; Kopist „X“ schreibt die meisten Stücke in den Lagen XXXII-XXXIII (fol. 366-382).[50] In Tr 93-1 trägt er ein Kyrie (fol. 107v-108r) und ein Gloria (fol. 210v-211r) nach. (Vgl. » Abb. Musikgattungen in Codex Trient 93.)

Johannes Wiser fügt am Ende der Kyrieserie (fol. 123v-125v) drei Kyrie an, davon eines aus der Missa tube von Jean Cousin (fol. 123v-124r). Er „firmiert“ auf fol. 125v mit der Unterschrift „Scriptum notatum…“: Wahrscheinlich war „per me Johannem Wiser“ gemeint, ist aber nicht ausgeschrieben bzw. radiert. Wiser schreibt sonst in Trient 93 nur noch das Gloria (fol. 199v-201r) zu Cousins Missa tube und ein fragmentarisches Gloria von Du Fay, fol. 234v.[51]  

Kopist „E“ fügt auf fol. 30v-36r Teile der Missa sine nomine von John Bedyngham ein;[52] vielleicht schrieb er auch zwei nachgetragene Stücke auf fol. 16r-18r. Deren zweites ist ein Magnificat (hier anonym) von Christofferus Anthonii von Molveno, einem Trienter Notar.[53] In Tr 90-2 notiert Wiser drei Kompositionen von Anthonii, darunter (mit Zuschreibung) das Magnificat (fol. 375v-376r). Falls diese Niederschrift eine Kopie nach Tr 93 ist, dupliziert Wiser eine Eintragung, die vor ihm in Trient selbst gemacht worden sein muss.

Wiser hat in seiner Kopie in I-TRbc 90 die Serie der Sanctus und Agnus-Vertonungen, die er aus Tr 93-1 kopierte, auf fol. 261v in einem Sanctus unterbrochen; Peter Wright zufolge geschah diese Unterbrechung, als Wiser in München den Ruf nach Trient erhielt.[54] Kopist „X“, der auch an Tr 93-2 beteiligt war (s. oben), vervollständigte dann das Sanctus und die ganze Serie bis fol. 282r. Nach Wright hat Kopist „X“, ebenso wie Wiser selbst, um „1453? – 1454 – 1455?“ gearbeitet.[55] Wäre dies in München gewesen, so hätte er sowohl Trient 93 als auch Trient 90 in ihrem jeweiligen Zustand nach Wisers Abreise zurückbehalten und wäre später mit beiden Handschriften nach Trient nachgereist. Viel sinnvoller erscheint die Annahme, dass er in Trient arbeitete, wo er sowohl das Hymnar in Tr 93-2 als auch die Sanctus-Agnus-Serie in Tr 90-1 vervollständigte.

Wright wollte zeigen, dass Johannes Wiser bereits Zugang zu Tr 93-1 hatte und dessen Inhalt in München duplizierte, bevor er nach Trient kam. Wann er dort ankam ist unbekannt; wir haben nur einen terminus ante quem mit dem 30. Juli 1455 für seine Anwesenheit in Trient, die schon 1453 oder 1454 begonnen haben könnte. Dies entspräche genau Wrights vorgeschlagener Datierung von Wisers Arbeitsbeginn an Trient 90: frühestens 1453, vielleicht 1454 oder sogar Frühjahr 1455.[56] Die Quellen selbst bieten also keinen Grund für die Annahme, Wiser habe Trient 90 anderswo als in Trient selbst kopiert. Ebensowenig gibt es Nachweise für Wisers Aufenhaltsorte vor Trient. Das von ihm beschriftete Papier wurde zwischen 1453 und 1456 nicht nur in Bayern, sondern auch andernorts verwendet.

[48] Spilsted 1982, 77-82; Wright 1989, 304-306; Bent 1986, besonders 98-101; Chemotti 2014, 13-16; Ferrari 2016, 7-8.

[49] Warum die Sequenzen von Tr 93-1 nicht von Wiser in Trient 90 dupliziert wurden, ist unsicher; vielleicht wurden sie erst eingefügt, als er schon mit der Kopie der Credo fortgefahren war. Vgl. Bent 1986, 86; Wright 2003, 299-300.

[50] Wright 2003, 303, Anm. 98. Bei Wright 1989, 304-305, als Kopist „C“ verzeichnet.

[51] Beide Sätze der Missa tube waren von Wiser zuerst in Tr 90 notiert worden (fol. 92v-93r und fol. 436v-438r) und wurden von ihm dann in Tr 93-1 kopiert: vgl. Bent 1986, 95.

[52] “G” genannt bei Wright 1989, 304.

[53] Flotzinger 2004, 201; Flotzinger 2014, 62.

[54] Wright 2003, 302-304.

[55] Wright 2003, 298.

[56] Wright 2003, 295: “ it seems unlikely that the manuscript” [Tr 90] “was begun any earlier than 1453, though it remains possible that it was begun as late as 1454, or even the early part of the following year”.