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Identitäten und Berufswege

Reinhard Strohm

Außer Johannes Wiser ist keiner der an den Handschriften Trient 93 und Trient 90 beteiligten Musiker namentlich bekannt. Rudolf Flotzinger sieht in „Johannes Prenner de Tridento“, der am 30. Juli 1455 als „artis grammatice professor“ und Schulrektor die Kaplanei von St. Katharina am Trienter Dom erhielt, den ursprünglichen Besitzer und vielleicht einen der Schreiber von Trient 93.[57] Die Kaplanei war durch den jüngst erfolgten Tod von Magister Andreas Augenlicz freigeworden.[58] Ob Augenlicz auch die Schulmeisterstelle besessen hatte, ist fraglich. Prenner könnte sie schon vorher (1454?) von jemand anderem übernommen haben; auf ein kirchliches Einkommen mussten Kleriker oft länger warten als auf die damit verbundenen Aufgaben.[59]

Magister scholarum (Schulmeister bzw. Schulrektor)[60] und succentor (letzterer auch „Subkantor“, „Junkmeister“ oder „Junger“ genannt) waren ein übliches Zweigespann in Kirchen der Region, wie z. B. an der Marienpfarrkirche in Bozen, am Schottenkloster und an St. Michael in Wien; sie wurden vom Pfarrer bzw. Prior gemeinsam angestellt oder der Schulmeister durfte selbst einen succentor präsentieren.[61] An St. Stephan in Wien war dem Schulrektor ein (Schul-)Kantor unterstellt, der seinerseits einen Subkantor hatte.[62] Natürlich war der Schulmeister für den Lateinunterricht verantwortlich, der Kantor oder Subkantor für den Kirchengesang. Johannes Wiser als succentor Prenners in Trient dürfte von diesem präsentiert worden sein, vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, als Prenner vom Domkapitel unter Bischof Georg Hack zum Schulmeister ernannt worden war. Wisers eigener succentor seit 1458 war Peter Schrott, der ihm ebenso 1465 als Schulrektor nachfolgte wie Wiser vorher Prenner. Diese hierarchische Personalstruktur lässt vermuten, dass Wisers Verantwortung für die Trienter Musikhandschriften zuerst mit Prenner und dann vielleicht mit Schrott geteilt war.[63]

Johannes Prenner ist nach Flotzinger identisch mit „Johannes Prenner de Prawnaw“, der am 13. Oktober 1447 an der Wiener Universität immatrikuliert wurde; ihm war bereits am 25. Oktober 1446 die Kaplanei des St.-Ursula-Altars in St. Stephan (vorläufig) verliehen worden, und in dieser Funktion ist er 1447 und noch am 26. November 1453 erwähnt.[64] Flotzinger bringt unter Hinweis auf die Wiener Schulordnung von 1446 Prenner mit der Stephansschule und Kantorei in Verbindung, vielleicht als Subkantor.[65] Freilich fehlen hierfür die Belege.

Johannes Wiser ist vielleicht mit „Johannes organista de Monaco“ identifizierbar, der im Herbstsemester 1454 in Wien immatrikuliert wurde.[66] Wiser stammte aus München: Das Ernennungsdokument für den Trienter Dorotheenaltar vom 3. Juni 1459 bezeichnet ihn als „honestus et discretus iuvenis Dominus Iohannes Wisser de Monaco Frisingensis diocesis, magister et rector scholarum“.[67] Wenn Wiser mit „Johannes organista de Monaco“ identisch ist, muss er sein Studium bereits 1454 oder 1455 abgebrochen haben, um die Stellung in Trient anzutreten. Für die Position des Schulrektors hatte er anschließend einen Universitätsgrad und die Priesterweihe zu erwerben (um 1456-57?). Dass Wiser Organist gewesen sei, ist nirgends belegt; aber auch Johannes Lupi und Wolfgang Chranekker, die Mensuralhandschriften anfertigten, waren Organisten (» K. A-Wn, Cod. 5094).

Die Hypothese, dass Prenner, Wiser und vielleicht Schrott vor ihrer Zusammenarbeit in Trient an der Universität Wien studiert hatten, passt mit damaligen Berufswegen gut zusammen. Ungesichert bleibt die Annahme, dass einer von ihnen an der Stephanskantorei gewirkt hätte. Und gar nichts wissen wir über Prenners individuelle Stellung zur Musik bzw. seine vermutete persönliche Beteiligung an den Trienter Codices. Es gab wohl auch damals unmusikalische Schulrektoren. Wisers Beteiligung ist dagegen auch unter dem Aspekt zu sehen, dass er als succentor mitsingen und die vokale Mensuralmusik einstudieren musste.

[57] Flotzinger 2004, 197; Flotzinger 2007, 207-210; Flotzinger 2014, 55-60 (vgl. auch Strohm 1996, 26-27). Das Dokument selbst (in I-TRac, Instrumenta capitularia IX, fol. 284r-v) ist resümiert bei Santifaller 1948, 348, Nr. 477; vgl. Gozzi 1992, Bd. I, 9; Wright 1986, 261 Anm. 42. Die Bezeichnung „de Tridento“ bedeutet nicht notwendigerweise, dass Prenner aus Trient stammte; sie bezog sich auf seinen Wirkungsort (Flotzinger 2004, 197 Anm. 45) und war vor allem zur Unterscheidung von dem in damaligen Urkunden öfters genannten Hanns Prenner, Richter zu Tramin (Johannes Prenner de Termeno) gemeint.

[58] Zu Augenlicz (den Johannes Lupi in seinem Testamentsentwurf von 1455 bedenken wollte) vgl. Wright 1986, 253-254; Flotzinger 2004, 194-196.

[59] Johannes Wiser, Nachfolger Prenners, war spätestens seit März 1458 Schulrektor, erhielt jedoch eine Kaplanei (von St. Dorothea und Nicolaus) erst am 3. Juni 1459 (Santifaller 1948, 363, Nr. 486).

[60] Wisers Titel „magister et rector scholarum“ ist eine verbreitete Formel und nicht mit dem Titel des scholasticus, eines Domherrn, zu verwechseln. Zu den Aufgaben von rector scholarum und succentor vgl. Gozzi/Curti 1994, 88-91.

[61] Vgl. » Kap. Junkmeister, Astanten» Kap. Personelle Voraussetzungen.

[62] Z. B. entsprechend der Wiener Schulordnung von 1446; vgl. Flotzinger 2014, 58-61. An St. Stephan musste der Kantor den Subkantor selbst bezahlen.

[63] Flotzinger 2004, 199, und 2007, 207f. und Anm. 8, weist Wrights Vorschlag (2003, 302 Anm. 94 und 95) zurück, „Sc(h)rott“ sei eine italienische Verschreibung von „Schroff“, und dieser sei mit einem in Wien 1451 immatrikulierten „Petrus Schroff de Monaco“ identifizierbar. Letzteres halte ich für möglich unter der umgekehrten Voraussetzung, dass „Schroff“ im Wiener Dokument ein Lesefehler für “Schrott“ ist.

[64] Flotzinger 2004, 197. Flotzinger 2014, 56.

[65] Flotzinger 2014, 56-59.

[66] Das Dokument zuerst erwähnt bei Pietzsch 1971, 186. Die Identifikation wird u.a. von Flotzinger in Oesterreichisches Musiklexikon online akzeptiert.

[67] Santifaller 1948, 363, Nr. 486. Wright 2003, 252 Anm. 19.