Zwei Wiener (?) Musikfragmente um 1460
Die Musikstücke, die Johannes Wiser und seine Assistenten in den Anhängen der Handschriften Trient 93 (» I-TRcap 93*) und Trient 90 (» I-TRbc 90) sowie im Mittelteil von Trient 88 (» I-TRbc88) (etwa fol. 222-252) notierten, sind meist Hymnen und Antiphonen, die hier gedrängt zusammengestellt wurden, nachdem ansonsten das Messordinarium und Messproprium bevorzugt worden war.[53] Dass diese Stücke meist anonym geblieben sind, ist mit regionaler Herkunft vereinbar. Der vierstimmige Hymnus Pange lingua in Trient 88, fol. 231v-232r (notiert um 1456-1460), hat eine Konkordanz in » D-Mbs Mus.ms. 3225, einem aus zwei Papierblättern von ca. 28 x 21 cm Größe bestehenden Fragment, das als Bindematerial gedient hat. Es überliefert fünf Hymnenvertonungen (bei der dritten und vierten fehlen die Oberstimmen): Deus tuorum militum (Märtyrerfeste), Quos arte piscatoria (2. Vers von Exorta a Bethsaida, St. Andreas), Pange lingua (Fronleichnam), Exultet celum laudibus (Apostelfeste) und Vita sanctorum (Ostern). Die Kopistenschrift des Fragments kommt in den Trienter Codices nicht vor. Es gibt einen Anhaltspunkt dafür, dass es aus Wien stammen könnte: Die Trägerhandschrift (D-Mbs Clm 22098), die aus dem Kloster Wessobrunn in die Bayerische Staatsbibliothek gelangte, enthält verbreitete Schriften des Wiener Theologen Nicolaus von Dinkelsbühl und, was bedeutsamer ist, den Brieftraktat De quatuor novissimis (Über die vier letzten Dinge) Stephans von Landskron (Landskrana), der 1430 bis 1477 Chorherr am Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien, und ab 1458 dessen Prior war.
Die drei- oder vierstimmigen Hymnenvertonungen in D-Mbs Mus.ms. 3225 führen den cantus firmus meist in der Oberstimme oder im Tenor, jedoch ornamentiert, nicht in gleichlangen Notenwerten, wie es in Hymnen erst seit etwa 1460 beliebt wurde.[54] Imitation und stimmenreduzierte Abschnitte fehlen fast ganz. Diese Kompositionen könnten in Wien in den 1450er Jahren entstanden sein – ebenso wie viele freilich noch unidentifizierte Stücke in Codex Trient 88.
Ein auf den ersten Blick einleuchtender Zusammenhang mit der Kollegiatkirche von St. Stephan besteht bei einem Musikfragment im Wiener Erzbischöflichen Diözesanarchiv („VienD“), das zum Binden eines Codex theologischer Schriften gedient hatte (» A-Wda Cod. 4).[55] Die zwei großformatigen Papierblätter aus der Zeit um 1460 enthalten (nach Peter Wright) Teile von sechs liturgischen Kompositionen, von denen fünf zum Fronleichnamsfest gehören: Es sind die Sequenz Lauda Sion salvatorem, das Responsorium Discubuit Jesus, der Hymnus Pange lingua und zwei verschiedene Vertonungen des Responsoriums Homo quidam; dazu kommt die Marienantiphon Speciosa facta es. Auffallend ist an dem Fragment, dass die Vorder- und Rückseiten beider Blätter jeweils nur die Oberstimmen der Gesänge enthalten; somit liegt nicht die zu erwartende Chorbuchanordnung vor, sondern die Blätter gehörten zu einem wahrscheinlich ungebundenen Discantus-Stimmheft. Die Fronleichnamsgesänge haben gemeinsam, dass sie in zeitgenössischen liturgischen Quellen der Fronleichnamsprozession zugeordnet sind, nicht einfach dem Fest. Wright schließt daraus, dass die Blätter tatsächlich in der Prozession oder jedenfalls an deren Stationen als Musiziervorlage dienten.[56]
Die Wiener Herkunft des Fragments ist sehr wahrscheinlich: Der Inhalt des Trägerbandes, A-Wda Cod. 4, stammt von Wiener Autoren; die betreffenden Fronleichnamsgesänge kommen im Ritus von St. Stephan vor, nämlich in den von Friedrich III. gestifteten priesterlichen Versehgängen mit Singknaben (» Kap. Die Sakramentsstiftung König Friedrichs III.). Eine explizite Auflistung der in der Wiener Prozession vorgetragenen Gesänge ist allerdings nicht überliefert.[57] Schwieriger fällt es zu entscheiden, woher die Musik stammt und wer sie in Wien gesungen haben mag. Eine konkordante Niederschrift für die Responsoriumsvertonung Discubuit Jesus steht in Codex Trient 88 (fol. 335v-336r), aufgezeichnet um 1460: Das dreistimmige Stück verwendet die Choralmelodie als monorhythmischen Tenor (alle Noten von derselben Länge) – eine Kompositionstechnik, die u.a. bei den Sequenzen von Trient 93 vorkommt.[58] Die dreistimmige Antiphonvertonung Speciosa facta es hat hingegen eine Konkordanz in der englischen Quelle » GB-Lbl Add. MS 54324 (ca. 1460).[59] Dieser Zusammenhang wäre so zufällig nicht: Das englische Fragment enthält auch das Kyrie der Missa Caput, deren Mittelsätze die Serie der Messzyklen über Fremdtenores in Tr 93-1 eröffnen, und die auch in Trient 90, 88 und » 89 in verschiedenen Formen überliefert ist. Englische Musik ist in Quellen der Region Österreich von ca. 1430 bis ca. 1470 prominent vertreten (» F. Europäische Musik). Der Melodiestil aller Kompositionen im Fragment A-Wda Cod. 4 erscheint westeuropäisch beeinflusst: Etwa in den Synkopierungen, den schwankenden Phrasenlängen, den umherschweifenden Melodielinien. Ein Vergleich mit Edlerawers Vertonung des Lauda Sion (von ca. 1440; vgl. Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer) mit ihren gleichmäßig abgesteckten Einzelversen kann den moderneren, fließenden Melodiestil der anonymen Vertonung verdeutlichen (» Notenbsp. Lauda Sion, anon.).
Ob dieses Lauda Sion und andere Werke des Fragments ausländische Kompositionen waren oder einheimische Stilnachahmungen, lässt sich angesichts der Internationalität des damaligen österreichischen Musikrepertoires kaum entscheiden. Wer aber hat sie gesungen? Die Aufstellung der Prozessionsteilnehmer in » Cod. 4712 (» E. SL Fronleichnamsprozession) erwähnt zwar den gesamten Wiener Klerus sowie die Schulknaben, Studenten und Magister der Bürgerschule und Universität, jedoch nicht den Kantor oder Organisten, die vermutlich zur Aufführung so relativ komplizierter Mehrstimmigkeit erfordert waren. Sicher nahmen an der allgemeinen Wiener Fronleichnamsprozession auch andere Personen teil, die nicht der Jurisdiktion des Stephanskapitels unterstanden, wie z. B. Abgesandte und Gäste des Hofes oder der Stadt.[60] Es bleibt demnach offen, ob die Kompositionen dieses Fragments von Mitgliedern der Stephanskantorei, von Hofmusikern, oder etwa gar einer auswärtigen Delegation ausgeführt wurden.
[53] Zu den Trienter Hymnen vgl. Ward 1986. Editionen aus » Tr 90 bei Gozzi 1992.
[54] Vgl. unten zu Discubuit Jesus. Zum musikalischen Stil der Trienter Hymnen vgl. Ward 1986.
[55] Lackner/Haidinger 2000; Wright 2009; Zapke 2013; (endgültig) Wright 2016, mit Edition der gesamten Musik.
[56] Wright 2016, 356-358.
[57] Zur personellen Ordnung der Fronleichnamsprozession von St. Stephan vgl. » E. SL Die Fronleichnamsprozession; Zapke 2012.
[58] Strohm 1993, 525.
[59] Wright 2016, 346-347.
[60] Im Jahre 1452 wurde der zu Besuch in Wien anwesende Münchner Organist Conrad Paumann in der Fronleichnamsprozession in einer Sänfte mitgetragen: vgl. » E. Kap. Ein prominenter Besucher.
[1] Der Katalog musikalisch-liturgischer Quellen in der Datenbank Klugseder/Rausch 2012 http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/HssAustria/index.php (Zugang 5. 8. 2017) nennt unter der Provenienz „Wien“ etwa 30 Handschriften geistlichen Inhalts aus dem 14.-15. Jahrhundert; von diesen sind die Mehrzahl Missalien oder Breviere, ohne nennenswerte musikalische Notation.
[2] Die in » E. Musikbücher der Universität erwähnten Signaturen beziehen sich z. T. auf Handschriften, die Musiktheorie oder andere verbale Hinweise auf Musik enthalten, oder deren Verbindung zu Wien derzeit nicht festgelegt werden kann. Zu anderen Wiener Musikhandschriften und -fragmenten des 15. Jahrhunderts vgl. » C. Ars antiqua und Ars nova; » C. Medien mehrstimmiger Vokalmusik; » E. Musiker an der Universität; » F. Europäische Musik im Raum Österreich; » K. Musikalische Quellenporträts.
[3] Winterburger 1511 (Faksimile- Edition: Väterlein 1982).
[4] Klugseder 2014, 203-207.
[5] Schusser 1986, Nr. 33, 68-69 (Hartmut Möller).
[6] Zum Turs-Missale vgl. Schusser 1986, Nr. 56, S. 79; Flotzinger 2014.
[7] A-Wsa, Bürgerspital-Amtbuch Nr. 3 (1432), fol. 32v. Nach Gottlieb 1915, 267-268; Schusser 1986, S. 79 (Klaus Lohrmann).
[8] Lind 1860; Weiss 1861; zur Baugeschichte: Perger/Brauneis 1977.
[9] Zum Schottenkloster vgl. Schusser 1986, S. 21-26 (Niederkorn-Bruck/Pass). Zu Choralfragmenten im Archiv von St. Michael vgl. Schusser 1986, S. 20-21 (Walter Pass).
[10] Klaus Lohrmann und Laszlo Mezey, Die Handschriftenfragmente auf den Einbänden der Amtsbücher des Wiener Bürgerspitals, Masch.schr. und hs. Kommentar zur Fragmentensammlung aus Einbänden des Bürgerspitals, datiert 13.2.1984, A-Wsa. Schusser 1986, Nr.40, 70-71.
[11] Beide Klöster bespricht Stoklaska 1986, 127-160; Perger/Brauneis 1977, 179-194.
[12] Diese Textfassung weicht von der römischen Texttradition etwas ab, findet sich jedoch auch in der westeuropäischen Überlieferung (z. B. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8447768b/f1068.item).
[13] Die Handschrift ist jetzt verschollen; ein Mikrofilm ist erhalten. Vgl. DIAMM, http://www.diamm.ac.uk/jsp/Descriptions?op=SOURCE&sourceKey=24; Klugseder 2014, 146-147.
[14] Klugseder 2014, 146-147.
[15] » A-Wn Cod. 1915, » Cod. 1931 und » Cod. 1932: vgl. Klugseder 2014, 158-160 und 163-167, mit Abb. 48-51. Zur Geschichte des Klosters vgl. Stoklaska 1986, 84-103.
[16] Die andere zweistimmige Lektion, “Consolamini popule meus“ auf fol. 44v-45r (Klugseder 2014, Abb. 43), ist weithin überliefert, z. B. in » A-Iu Cod. 457, vgl. » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit: Arten; » K. Musikalische Quellenporträts.
[17] » A-Wn Cod. 3079. Klugseder 2014, 167-173 mit Abbildungen.
[18] Vgl. Klugseder 2014, Abb. 52a-b. Zur Institution vgl. Stoklaska 1986, 104-110; Perger/Brauneis 1977, 230-233.
[19] Mantuani 1907, 286; vgl. » Kap. Die Kantoreiordnung von 1460 und die Pflege der Mehrstimmigkeit.
[20] Zu den Inhalten der Lieder und der Gattung insgesamt vgl. » B. Geistliches Lied.
[21] Ristory 1985b. Der Hauptband ist 1418 datiert.
[22] Vgl. auch » A. Rhythmischer Choralgesang. Ristory 1985b transkribiert die gestielten und geschwänzten Noten dieser Auftakte als 32tel (gegenüber Vierteln und Achteln der Hauptnoten), was musikalisch wenig Sinn ergibt: Diese Niederschrift ist nicht als orthodoxe Mensuralnotation lesbar.
[23] Vgl. Ristory 1985b, 153: Der Gang des Lektors zum Lesepult wurde traditionell mit zusätzlichen Gesängen „begleitet“, die dementsprechend „conductus“ hießen. Den drei Liedern folgt eine von Ristory nicht erwähnte Lektionseinleitung zur Weihnachtslesung, Laudem deo dicamus per secula, notiert in regulärer gotischer Choralnotation.
[24]„Inulas“ (Ristory 1985b, 162, liest „inulus“) betrifft die Alant-Pflanze „inula“, ein seit der Antike beliebtes Heilkraut, mit dem man u.a. an Weihnachten in der Steiermark die Ställe als Abwehr gegen Pest oder böse Geister ausräucherte (Wikipedia).
[25] Detaillierte (jedoch lückenhafte) Beschreibung des Musikanhangs: Zapke 2014, 365-369. Zur Musiktheorie vgl. daneben Smits van Waesberghe 1961 (RISM B III/1), 45; Smits van Waesberghe 2003 (RISM B III/6), 86. Zur Mehrstimmigkeit » Kap. Lesungen und Lektionseinleitungen; vgl. auch Reaney 1969 (RISM B IV/2), 106-17; Rosenthal 1925, 13; Flotzinger 1989, 51.
[26] Für Einzelheiten vgl. » K. Quellenporträts.
[27] Rumbold/Wright 2009; Welker 2006 (Haupttext von Rumbold und Wright). Vgl. auch Braunschweig 1982.
[29] Rumbold/Wright 2009, 201-248.
[30] Rumbold/Wright 2009, 24-31. Pötzlinger, der offenbar auch Priester geworden war, erhielt 1439 eine Pfarrei in Auerbach (Oberpfalz); weitere Benefizien konnte er später in Orten der Regensburger Region antreten.
[31] Ward 1981. Vgl. » Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“; » C. Organisten und Kopisten.
[32] Vgl. » Kap. Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen; » Abb. Kyrie St. Emmeram-Codex; » Notenbsp. Kyrie St. Emmeram-Codex.
[33] Strohm 1983. Rumbold/Wright 2009, 87-90, vermuten, dass Pötzlinger die Blätter mit einstimmigen Melodien von deren Schreiber („E“) erwarb.
[34] Hierzu vgl. » F. Europäische Musik.
[35] Details in Welker 2006, 42-48; ergänzend dazu Rausch 2014. Letzterer weist den Wiener Aufenthalt von Rudolf Volkhardt (1433-1439) nach. Zu den möglichen Zeugnissen eines lokalen „Netzwerks“ gehört vielleicht auch ein Einzelblatt mit zwei Kompositionen, darunter eine von Du Fay, im Pfarrarchiv Weitra (A-WEI), Cod. 1/7: ebda. 131-134.
[36] Rumbold/Wright 2009, 64 Anm. 3. Vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern; » Abb. Codex Trient 87.
[37] Diese Charakterisierung wurde von Göllner 1967 eingeführt.
[38] Das Kopieverhältnis ermittelte Bent 1979 und Bent 1986. Unter „Band“ sei hier auch ein vielleicht ungebundenes Konvolut verstanden, das aber als zusammengehörig behandelt wurde. Wasserzeichendatierungen nach Wright 1996 und Wright 2003; vgl. auch Saunders 1989.
[39] Gozzi 1992 ediert und beschreibt die Kompositionen in Tr 90-2.
[40] Die Forschungsdiskussion ist ausführlich dargestellt bei Wright 2003, 247-251.
[43] Letzteres ist auch nach Wrights eigenem methodischem Ansatz unwahrscheinlich, da er die Papiere des Hauptteils von von I-TRcap 93* (Tr 93-1) fast nur in Tirol (Nord und Süd) nachweisen konnte.
[45] Flotzinger 2014. Vgl. Diskussion und Kritik von Flotzingers These in » Kap. War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?
[46] Zuerst vermeldet bei Pietzsch 1971, 186 nach Matrikel II, 1967: 1454/II R 47.
[47] Flotzinger 2014, 44-45, 54-55.
[48] Zu Edlerawer vgl. » G. Hermann Edlerawer; » E. Musik im Gottesdienst. Zu Wilhelmi vgl. » F. Musiker aus fremden Ländern.
[49] Die Kyries von » I-TRcap 93* sind bei Chemotti 2014 ediert und kommentiert.
[51] Diese Gruppe dürfte um 1452 aus Ferrara importiert worden sein: Strohm 1993, 242.
[53] Zu den Trienter Hymnen vgl. Ward 1986. Editionen aus » Tr 90 bei Gozzi 1992.
[55] Lackner/Haidinger 2000; Wright 2009; Zapke 2013; (endgültig) Wright 2016, mit Edition der gesamten Musik.
[56] Wright 2016, 356-358.
[57] Zur personellen Ordnung der Fronleichnamsprozession von St. Stephan vgl. » E. SL Die Fronleichnamsprozession; Zapke 2012.
[58] Strohm 1993, 525.
[59] Wright 2016, 346-347.
[60] Im Jahre 1452 wurde der zu Besuch in Wien anwesende Münchner Organist Conrad Paumann in der Fronleichnamsprozession in einer Sänfte mitgetragen: vgl. » E. Kap. Ein prominenter Besucher.
[61] Beschreibung: http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=28794.
[62] Staehelin 1986 (mit Abbildungen des gesamten Fragments und teilweiser Übertragung); Pass 1980.
[63] Zu diesen Quellen vgl. » K. Musikalische Quellenporträts (Leopold-Codex) bzw. » F. Europäische Musik.