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Der „Wiener Codex“

Reinhard Strohm

Europäische Mehrstimmigkeit der Zeit um 1380-1415 ist in einem ehemaligen Wiener Codex gesammelt, dessen Fragmente heute in den Bibliotheken von Melk und Nürnberg verteilt liegen. Die ursprüngliche Handschrift befand sich höchstwahrscheinlich an der Bürgerschule zu St. Stephan in Wien, als sie um 1458-1461 als Bindematerial vermakuliert wurde (» K. Musikalische Quellenporträts).

An der Bürgerschule lehrten Professoren und Absolventen der Universität. Schulknaben und erwachsene Musiker der Bürgerschule sowie weitere Universitätsangehörige können die Musik des Codex aufgeführt haben. Die Kirchenmusik des Codex wurde wohl nicht in Gottesdiensten des Stephanskapitels, sondern eher in Privatmessen aufgeführt, wo Mitglieder der Schule und Kantorei gegen Bezahlung zu singen hatten.

Dass die Musik in der süddeutsch/österreichischen Region tatsächlich musiziert wurde, belegt die sprachliche Form der Hinweise “Sichs an” und “lug auff” – bei einer aus Nordfrankreich oder Flandern (ca. 1380) stammenden Motette in diesem Codex (» Abb. Motette Degentis vita).

 

 

„Sichs an“ und „Lug auff“ (witzige Markierungen, wie sie noch heute in Form eingezeichneter Brillen in Aufführungsstimmen gefunden werden können) sind hier im Tenor mit roter Tinte eingezeichnete Rubriken und stammen vom Schreiber der Musikstücke, der also auch mit deren Aufführung zu gehabt haben dürfte.

Der musikalische Inhalt des „Wiener Codex“ (» K. Musikalische Quellenporträts) ist durch zahlreiche Konkordanzen mit anderen Musikquellen der Epoche um 1380-1415 vernetzt, die von Mittelitalien bis nach England und Polen verstreut sind. Unter den elf Kompositionen des Fragments sind sechs Ordinariumsvertonungen (vier Glorias, zwei Credos) zum kirchlichen Gebrauch bestimmt. Die anderen sind drei Motetten und zwei weltliche Stücke, eines davon die weitberühmte Ballade „De petit peu“ des französischen Meisters Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377), das andere ein Virelai mit dem Titel “Bobik blazen” (tschechisch für „Robert der Spielmann“).[26]

Das Gloria von Johannes Ciconia (ca. 1370-1412) ist auch in zwei Paduaner Quellen des frühesten 15. Jahrhunderts überliefert, die aber ebenfalls fragmentarisch sind. Die Satzstruktur von zwei gleichhohen Oberstimmen und einem textlosen Tenor, die damals in Italien beliebt war, könnte mit Falsettisten oder Knabenstimmen und vielleicht Orgelpositiv für den Tenor ausgeführt worden sein. Der rhythmisch deklamierende Textvortrag und die kurzen, deutlich voneinander abgesetzten musikalischen Abschnitte sind typisch für den Stil des nach Italien eingewanderten Lütticher Komponisten (» Notenbsp. Et in terra pax, Ciconia).

 

[26] Für Einzelheiten vgl. » K. Quellenporträts.