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Zwei Inventare

Reinhard Strohm

Wie viele Choralbücher sogar in weniger bekannten Kirchen und Kapellen Wiens bereitlagen, zeigen zwei Kapellinventare des 15. Jahrhunderts, die das Ausmaß der Gesamtverluste erahnen lassen. Aus dem Bürgerspital vor dem Kärntner Tor, das eine Lateinschule führte und selbstverständlich eine zugehörige Kapelle hatte, ist ein Inventar der Kleinodien einschließlich der Mess- und Gesangsbücher aus dem Jahr 1432 erhalten.[7] Neben zahlreichen liturgischen Texthandschriften (wie z.B. Missalien, Matutinale, Psalter) sind hier folgende Gesangsbücher genannt:

„Ain newr antiffner
Zwey antiphonar in pergamen
Drew gradwal in pergamen
Ain sanckpuch cum historia Kunigundis
Zwen altt antiphon, ain altz gradual…“

Man hatte damals also je drei Gradualien für die Messe und drei Antiphonalien für das Stundengebet in Gebrauch; eines der letzteren war gerade neu angefertigt worden, während mehrere andere, als „alt“ bezeichnete Bücher vielleicht nicht mehr benützt wurden. Das Gesangbuch „cum historia Kunigundis“ enthielt wohl eine notierte Niederschrift des Offiziums der Hl. Kunigundis (975-1033), der deutschen Kaiserin und Schutzheiligen schwangerer Frauen und kranker Kinder, die im Spital offenbar verehrt wurde.

Die von Otto und Haymo gegründete Marienkapelle (später Salvatorkapelle) des alten Rathauses in der Wipplinger Straße[8] beschäftigte seit 1373 vier Chorschüler, die die Messen zu singen halfen (vgl. » E. Musik im Gottesdienst, Kap. Musikalische Stiftungen). Aber wie eine teilweise Umschrift eines Inventars vom 27. November 1431 erweist, war das musikalische Repertoire umfassender:

“Vermerkt die Ornement und/ klainad die beschriben sind/ worden in Otten und Haymen/  Capellen, Anno etc. Tricesimo/ primo an Eritag vor sand/ andres tag/

Von ersten drew messpuecher, und/ zway Gradual und zwen antiffner/ …
Item ain verprannts Cancional/ …
Item die Passion genotirt/
Item ain puch mit gesankch und Colletten/ …
Item ain alts Cancional in papir/…”

(» Abb. Inventar der Rathauskapelle, 1431)

 

 

Auch hier wird zwischen alten und neuen Büchern unterschieden. Dass gerade von den Cantionalien eines als „alt“, ein anderes als „verbrannt“ bezeichnet wird, könnte auf einen Niedergang musikalischer Praxis deuten, denn „Cantional“ war der übliche Name für Handschriften mit Liedern und mehrstimmigen Gesängen. Immerhin verwendete man ein Buch mit Gesang und Gebetstexten (Colletten), vielleicht für Totenoffizien, und man hatte eine notierte Passion – was zumindest den gesungenen Vortrag der Passionslesungen, vielleicht sogar das Singen einer dramatisierten Fassung nahelegt.

[7] A-Wsa, Bürgerspital-Amtbuch Nr. 3 (1432), fol. 32v. Nach Gottlieb 1915, 267-268; Schusser 1986, S. 79 (Klaus Lohrmann).

[8]  Lind 1860Weiss 1861; zur Baugeschichte: Perger/Brauneis 1977.