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Schlaglicht: Das Bozner Fragment

Giulia Gabrielli

Ein wichtiger Handschriftenfund

In Bozen/Bolzano wurde kürzlich eine hochinteressante Entdeckung zur Musik des 15. Jahrhunderts gemacht. Im Zusammenhang mit Forschungen nach mittelalterlichen Quellen zum Kirchenchoral und Cantus fractus (» A. Rhythmischer Choralgesang) tauchte eine neue Quelle zur Mehrstimmigkeit des 15. Jahrhunderts auf (» I-BZmg o. Sign.). Es handelt sich um ein Fragment, bestehend aus zehn Papierblättern der Abmessungen ca. 290 x 225 mm, beschriftet mit 17 dreistimmigen Kompositionen in weißer Mensuralnotation. Das Fragment stammt aus dem Bindematerial eines Urbariums (Grundherrschaftsverzeichnis), datiert 1506–1628, aus der alten Pfarrkirche von Gries bei Bozen.[1] Das Urbarium wird jetzt im Archiv der zunächst gelegenen Benediktinerabtei Muri-Gries aufbewahrt, im westlichen Vorort Gries der Stadt Bozen. (» Abb. Abtei Muri-Gries) Das dortige Archiv enthält zahlreiche Archivquellen aus der alten Grieser Pfarrkirche.

 

Abb. Abtei Muri-Gries

Abb. Abtei Muri-Gries

Die 1845 gegründete Benediktinerabtei Muri-Gries bei Bozen/Bolzano ist benannt nach dem im Jahr 1841 aufgehobenen Kloster Muri in der Schweiz. Vom 15. Jahrhundert bis 1807 war die Abtei ein Augustiner-Chorherrenstift gewesen. (Foto: Reinhard Strohm)

 

Bei der ersten Inspektion des Fragments war nur eine einzige Seite der Musik sichtbar, nämlich der erste Teil eines dreistimmigen Salve regina (mit Tenor als Kanonstimme). Dieses Blatt diente als vorderes inneres Deckblatt des Urbariums (» Abb. Bozner Fragment: Salve regina). Die sorgfältige Restaurierung des Materials förderte neun weitere darunterliegende Blätter zutage, dazu zwei Pergamentblätter einer liturgischen Handschrift. Diese Blätter waren mit dem Salve regina-Blatt zusammengeklebt und bildeten einen soliden Deckel, um den herum im 16. Jahrhundert der Ledereinband des Urbariums geschlagen wurde.

 

Zu Kodikologie und Inhalt des Bozner Fragments

Nach dem Auslösen und der Restaurierung der Papierblätter konnte der Inhalt und Charakter des Musikfragments rekonstruiert werden. Die Wasserzeichen, soweit vorhanden, gehören zum Typ „Dreiberg mit Kreuz“. Dasselbe Wasserzeichen findet sich im ersten Teil des bekannten Codex „Trient 93“ (» I-TRcap 93*). Nach den Wasserzeichenforschungen von Suparmi Elizabeth Saunders und Peter Wright ist das Fragment dementsprechend auf die Jahre 1450–1453 datierbar.[2]

Die 17 im Fragment enthaltenen Kompositionen wurden von vier verschiedenen Händen geschrieben, von denen nicht weniger als drei auch im ersten Teil des Codex I-TRcap 93 vorkommen. Alle 17 Musikstücke sind fragmentarisch: die unter dem Salve regina-Blatt liegenden Blätter wurden nämlich so beschnitten, dass immer nur der Mittelfalz des jeweiligen Doppelblattes erhalten blieb. Somit sind die Außenränder der Blätter mit ihrer Notation verlorengegangen. Die Innenränder bzw. der Mittelfalz der Doppelblätter haben keinerlei Stichlöcher, was bedeutet, dass sie ursprünglich nicht zusammengebunden, sondern nur ineinandergelegt waren.

Die Rekonstruktion des Fragments führte zu der Annahme, dass die Blätter ursprünglich zu vier verschiedenen Faszikeln gehörten, von denen drei polyphone Vertonungen von marianischen Antiphonen enthielten. Diese Antiphonen sind alphabetisch angeordnet. Der vierte Faszikel enthält zwei Vertonungen der Pfingstantiphon Veni sancte spiritus reple.

Die Mehrheit der Kompositionen ist auch in anderen zeitgenössischen Quellen erhalten. Darunter sind dreistimmige Antiphonen von englischen Komponisten. Mehrere der Stücke finden sich auch in den Trienter Codices. Hier eine Übersicht der 17 Kompositionen (» Abb. Bozner Fragment Inhaltstabelle):[3]

 

 

Bisher sind drei Kompositionen als unica einzustufen (Nr. 7, 16, 17); eine weitere (Nr. 2) ist so fragmentarisch erhalten, dass sie noch nicht identifiziert werden konnte. Besondere Aufmerksamkeit beansprucht die Canzone O rosa bella. Im Bozner Fragment finden sich von dieser berühmten Komposition zwei Stimmen, von denen die eine als „tenor gemellicus“, die andere als „tenor duellicus“ bezeichnet ist („Zwillingstenor“ bzw. „duellierender Tenor”); diese entsprechen den Einzelstimmen mit den Namen „aliud gimel“ bzw. “gimel” in „Trient 90“ (» I-TRbc 90, fol. 362r). Neben der zweiten Simme („tenor duellicus“) erscheint die Zuschreibung „wenigan“, eine korrumpierte Form des Namens des englischen Komponisten John Bedyngham.[4]

 

Zur Herkunft des Fragments

Die Herkunft des Fragments ist derzeit noch nicht sicher ermittelbar. Eindeutig scheint seine enge Beziehung zum Codex I-TRcap 93*. Vielleicht bildete das Fragment einen Teil davon oder eine Art Pendant, eine Parallelhandschrift: Dann wäre es ein Teil einer Handschrift vor allem mit Offiziumskompositionen gewesen, während I-TRcap 93 vor allem Messsätze enthält. Der Einband, in dem das Fragment gefunden wurde, liefert keine eindeutigen Anhaltspunkte: Er entspricht einem allgemein bekannten Typus aus der süddeutsch-österreichischen (Tiroler) Region.[5]

Das Fragment wird demnächst im Faksimile publiziert werden.[6] In diesem Zusammenhang sollen die Forschungen zur Provenienz des Fragments weitergeführt werden. Jedenfalls kann ein lokaler Ursprung nicht ausgeschlossen werden; vor allem ist auf die Musikpflege an der Marienpfarrkirche der Stadt Bozen zu verweisen (vgl. hier » E. Bozen). Auch sei nicht vergessen, dass Bozen der Heimatort von Johannes Lupi war, der in seinem Testament von 1454/1455 eben der Pfarrkirche Bozen seine „sechs großen und kleinen Bücher“ mehrstimmiger Musik vermachte, die in der neueren Literatur diskutiert werden.[7]

[1] Die alte Pfarrkirche von Gries ist vor allem bekannt durch den dort vorhandenen Schnitzaltar der Marienkrönung von Michael Pacher (1471–1475). Zur Wirtschaftsgeschichte der damaligen Pfarrei vgl. Obermair/Stamm 2011.

[4] Nach der Bozner Version ediert in Fallows 2014 (vgl. Nr. 65, 113 und 114).

[5] Ohnehin steht fest, dass der Inhalt des Bandes aus der alten Pfarrkirche von Gries stammte (Anm. der Red.).

[6] Gabrielli/Wright in Vorb.

[7] Vgl. zuletzt » G. Johannes Lupi, sowie Strohm 2013. Lupis Hand kommt im Bozner Fragment allerdings nicht vor (Anm. der Red.).


Empfohlene Zitierweise:
Giulia Gabrielli: „Das Bozner Fragment“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-das-bozner-fragment> (2016).