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Das Bozner Ansingen

Reinhard Strohm

Fest verankert ist in Haslers Urbar und den Kirchprobstrechnungen ein Brauch, der keiner Stiftung oder notariellen Beurkundung bedurfte: das „Ansingen“, d. h. das weihnachtliche Singen der Schüler in den Gassen der Stadt, das mit reichen Geldspenden der Bürger belohnt wurde. Wie in vielen anderen europäischen Zentren war diese Praxis, später oft „Kurrende“ genannt (» H. „Kurrende“), ursprünglich eine Unterstützungsmaßnahme für die armen Schüler der Chorschule, die im Gegensatz zu den wohlhabenden ihre Schulgebühren und den täglichen Unterhalt nicht von der Familie bezogen, sondern selbst „ersingen“ mussten. In der Bozner Pfarrschule des 15. Jahrhunderts gab es zwar Differenzierungen zwischen reichen und armen Schülern (vgl. Kap. Junkmeister), doch ist beim Ansingen nie davon die Rede, dass es nur von den Letzteren ausgeführt werden solle. Das ersungene Geld wurde dem Schulmeister überbracht und an alle Sänger verteilt – allerdings nach Regeln, die sich im Laufe der Zeit änderten. Die in Christoph Haslers Urbar kopierte Schulordnung sieht vor, dass der Schulmeister 5 £ der ersungenen Geldsumme behalten solle – doch trägt Hasler selbst dort nach (gegen 1460), es sollten Schulmeister und Junkmeister gar nichts von diesem Geld erhalten, sondern die Schüler mögen es unter sich gleichmäßig verteilen. Wiederum bezeugen später die Kirchprobstrechnungen neben der pekuniären Entlohnung eine „Zehrung“ zu Weihnachten oder einige Tage danach (1490 fand sie am 1. Januar statt). Sie bestand aus einer üppigen Mahlzeit mit Wein, die nur den Ansingern und allen von ihnen gleichermaßen zukam; in den 1480er Jahren ist sie mehrmals mit über 20 £ veranschlagt. In manchen Jahren gab es bis zu vier einzelne Mahlzeiten, jeweils nach dem täglichen Umgang. Trotzdem war das über die Kosten der Zehrung hinaus Ersungene fast jedes Jahr eine Summe zwischen 70 und 120 £ – eine der stattlichsten Einnahmen des pfarrkirchlichen Gesangsunternehmens. Seit etwa 1485 wurden spezielle Geldsammler verpflichtet, die den Ansingern folgten und für ihre Mühe auch mit entlohnt und verköstigt wurden.

Die Bozner Ansinger des 15. Jahrhunderts waren demnach nicht die armen, sondern die gesanglich besonders begabten Schulknaben. Sie wirkten zusammen mit Schulmeister, Astanten und Junkmeister. Im Jahre 1501 (» I-BZac Hs. 658) waren unter Leitung von Schulmeister Treibenraif (Petrus Tritonius, ein Komponist von Humanisten-Oden, » I. Odengesang) acht Ansinger tätig, die an vier Tagen in der Weihnachtszeit herumgingen und an jedem Abend danach eine Mahlzeit erhielten. Unter ihnen können nur höchstens vier oder fünf junge Schulknaben gewesen sein, die anderen waren ein oder zwei „große Gesellen“ (Astanten), der Junkmeister und der Schulmeister selbst, eine für damals typische Gruppierung zum Vortrag mehrstimmiger Musik (besonders vierstimmiger). Der venezianische Reisebericht von Andrea de‘ Franceschi bezeugt im Jahre 1492 entsprechende Ensembles in Klausen und Sterzing (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen). Schon Haslers Urbar impliziert eine solche Gruppierung, da er an einer Stelle des Rundgangs die Teilung in eine größere und eine kleinere Gruppe empfiehlt, von der die kleinere zwei oder drei Mitglieder habe.

Diese Beschreibung des Umgangs der Bozner Ansinger in Haslers Urbar (» F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 135r–135v, um 1460) ist ein beredtes Dokument für die soziale Topographie der Stadt und die musikalische Praxis. Für weitere Angaben zu solchen Umgängen vgl. » H. „Kurrende“.