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Odengesang bei den Humanisten

Andrea Horz
  • Die Melopoiæ – oder: Apoll auf dem Parnass

    Zusammen mit dem Augsburger Drucker Erhard Oeglin brachte im Jahre 1507 der in Wien tätige deutsche Erzhumanist Conrad Celtis die Melopoiæ sive Harmoniæ tetracenticæ (Gesangswerke oder vierstimmige Harmonien) auf den Markt (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt). Zum einen steht es (rund sechs Jahre nach Petrucci in Italien)[1] für den Beginn des Notendrucks mit beweglichen Lettern nördlich der Alpen – ein Umstand, auf den Oeglin im Kolophon nicht ohne Stolz aufmerksam macht.[2] Zum anderen gilt es in der Musikforschung gar als „Gründungswerk“ für eine eigene Gattung, für die sogenannte Humanistenode. Der Druck ist also ein guter Ausgangspunkt, die Geschichte des Odengesangs bei den Wiener Humanisten in musikalischer wie literarischer Hinsicht zu explorieren. Gemeinhin werden die Sätze Petrus Tritonius (Peter Treibenreiff) zugeschrieben. Der Drucker Erhard Oeglin gibt ihn in dem für den Schulgebrauch bestimmten Druck Harmoniæ (» Augsburg: Erhard Oeglin 1507), der nur Text und Noten der Melopoiæ umfasst, als Komponist der Odensätze an. Auf dem Titelblatt der Melopoiæ (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt) nennt Celtis Tritonius nur als einen Komponisten unter anderen:
    „…per Petrum Tritonium et alios doctos sodalitatis litterariae nostrae musicos secundu[m] naturas & tempora syllabaru[m] et pedum compositae et regulate ductu Chunradi Celtis foeliciter impresse“
    (… durch Petrus Tritonius und andere gelehrte Musiker unserer literarischen Sodalitas nach den Arten und Zeitmaßen der Versfüße komponiert und reguliert, unter der Leitung von Conrad Celtis erfolgreich gedruckt).

     

     

    Die Melopoiæ fügen sich in vielerlei Hinsicht in die Bestrebungen von Conrad Celtis. Im Vorwort benennt er ein Anliegen des Druckes: Das Singen lateinischer Verse sollte das Verständnis für die lateinische Prosodie und für die quantitierende Silbenmessung fördern – ein Unterrichtsziel, das mit seiner strikten Ausrichtung am antiken Latein für die humanistische Bewegung kennzeichnend ist. Außerdem sollte grundsätzlich der antike Brauch wiederbelebt werden, Versdichtungen zu singen.[3] Die Bedeutung der Melopoiæ war für Celtis also nicht auf die didaktische Funktion beschränkt. Nur bedingt können sie unter den Musikdrucken eingeordnet werden. Denn wie Birgit Lodes nachgewiesen hat, war dieser Druck für das praktische Musizieren ungeeignet und auch zu teuer. Für diese Funktion eignete sich der Folgedruck, die schlichteren, weitaus didaktischer ausgerichteten Harmoniæ, wesentlich besser.[4] Das Bildprogramm verweist auf den Platz der Melopoiæ innerhalb Celtis’ Schaffen.[5] Die vierzehn Seiten Notentext flankieren zwei Holzschnitte, die detailreich die Quellen und Musen der dichterischen Inspiration zum Gegenstand haben (» Abb. Apoll auf dem Parnass und » Abb. Phoebus umringt von den Musen). Im ersten Bild steht der musizierende Apoll auf dem Parnass unter einem Lorbeerbaum im Mittelpunkt.[6] Im zweiten Holzschnitt ist Phoebus (=Apoll) von neun auf verschiedenen Instrumenten musizierenden Musen umringt. Das Wappen am unteren Rand des Bildes verweist explizit auf Conrad Celtis.[7] Damit zeigte Celtis an, dass er nach dem Vorbild Apolls die Personalunion von Dichter und Sänger, die Einheit von Musik und Sprache anstrebte.

     

     

     

    Bereits in seinem ersten gedruckten Werk » Ars versificandi et carminum (1486) nahm Celtis auf den Dichtergott Apoll Bezug, von dem er das Wissen um die metrischen Gesetze erhielt. In einer abschließenden Ode bat er den Gott, im Sinne einer Translatio artium, also eines Transfers der Künste, mit seiner Lyra in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu kommen.[8] Das Bildprogramm der Melopoiæ sowie die Bitte um die Lyra zeigen an, dass Celtis den musikalischen Vortrag lateinischer Dichtung als integrale Einheit ansah. Mit den Notenbeigaben der Melopoiæ gab er vor, wie dies klingt (siehe als Beispiel die ersten beiden Oden der Melopoiæ in » Abb. Mæcenas atavis und Iam satis terris sowie die Übertragung der ersten Ode in moderne Notenschrift in » Notenbsp. Mæcenas atavis).

     

     

     

    Die von Celtis vorgelegten Modellvertonungen sind vierstimmig gehalten und folgen in der homophon-syllabischen Setzweise strikt der Metrik des Textes. Der vierstimmige Satz ist bis zum Ende des Gedichtes zu wiederholen. Mit der Drucklegung der Melopoiæ scheint für Celtis 1507 der Transfer der Lyra des Apoll in den deutsch-österreichischen Raum Wirklichkeit geworden zu sein, denn er schreibt im Vorwort:
    „Terq[ue] quater felix nunc o Germanica tellus, Que graio & lacio carmina more canit.“[9]
    (Drei- und viermal sei nun glücklich, o deutsches Land, das die Gesänge nach griechischer wie lateinischer Art singt.)[10]
    Durch die strikte Umsetzung der Quantitäten in der Musik meint Conrad Celtis dem antiken Vortrag der lateinischen Dichtung gerecht geworden zu sein – Apoll wohnt nun im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

  • Humanistische Herrscherhuldigung

    Der im Bildprogramm der Melopoiæ abgebildete Lorbeer ist ebenso wie die Darstellungen des Apolls bezeichnend. Der Dichtergott Apoll trug als Zeichen seines Kummers über die unerwiderte Liebe zu Daphne einen Lorbeerkranz oder schmückte seine Leier damit. Der Lorbeerkranz Apolls – seit der Antike Symbol des Ruhmes und des Sieges – kennzeichnet auch die poetae laureati. Die Dichterkrönung war Ehre und Pflicht zugleich, denn nicht nur der Poet erhielt damit Ruhm, auch der die Krönung vornehmende Herrscher wollte daran teilhaben: Im Gegenzug sollte der Gekrönte mit seinem Werk den Machthaber rühmen.

    Auch der Initiator des Druckes – Conrad Celtis – trägt den Lorbeer des poeta laureatus (des lorbeergekrönten Dichters), den er als erster Deutscher 1487 von Kaiser Friedrich III. empfing. 1501 ernannte der damalige König Maximilian I. Celtis zum Vorstand des an der Universität Wien neu gegründeten Collegium poetarum et mathematicorum.[11] Das Collegium unterstand direkt dem Landesfürsten bzw. dem Kaiser. Nach dem Vorbild der italienischen Akademien[12] sollten die humanistischen Studien an der Universität Wien – die durch ihren Gründer Rudolf IV. den Habsburgern besonders verbunden war – verankert werden. Diese „moderne“ Einrichtung sollte das Ansehen der Universität weiter erhöhen.[13] Zudem bestand einer der Grundgedanken des von Celtis geführten Wiener Poetenkollegs darin, die Dichterkrönung – und damit zugleich das Herrscherlob[14] – zu institutionalisieren. Mit dem erfolgreichen Abschluss des Lehrprogramms sollte der Absolvent die Dichterkrone erhalten.[15] Daher umfassten die für das Kolleg stehenden Symbole auch einen Lorbeerkranz (» Abb. Insignien des Collegium poetarum et mathematicorum).

     

     

    Hand in Hand gingen also die Glorifizierung des Herrschers und das humanistisch-gelehrte Bestreben, das antike Erbe zu erneuern und zu bewahren. Auch die von Celtis mit der Melopoiæ vorgelegte Lösung, wie eine musikalische Präsentation antiker Lyrik ausgesehen haben mag, ist nicht allein von gelehrtem Interesse. Denn der Vortrag metrischer Dichtung war auch ein Mittel, den Herrscher zu rühmen – und was konnte attraktiver sein, als den von der Antike ererbten Machtanspruch mit einem ebenfalls für antik befundenen Vortragsstil zu verkünden?[16] Der Odengesang erhielt in Verbindung mit der Herrscherwürdigung eine überaus praktische Komponente.

    Celtis erweiterte die performative Funktion des musikalischen Odenvortrags, indem er ihn in Bühnenstücke einsetzte. Die Rezeption der antiken Dramentheorie, einschließlich der philologischen Erschließung, insbesondere der Dramen Senecas, sowie die Aufführung antiker Bühnenwerke,[17] beispielsweise von Terenzkomödien, waren Celtis ein Anliegen, aber offenbar auch Anregung für eigenes Schaffen. In seinen zwei erhaltenen Bühnenstücken steht das Herrscherlob im Mittelpunkt. Musik ist in diesen beiden Stücken auch vorgesehen. Der Odengesang kommt bei der Nachgestaltung eines antiken Chores zum Einsatz.

  • Der Ludus Dianæ: humanistisches Theaterspiel

    Der Ludus Dianæ [18] wurde zur Faschingszeit 1501 in der Burg von Linz vor Maximilian und seiner zweiten Frau Bianca Maria Sforza und ihren mailändischen Verwandten aufgeführt. Mit bunten Masken und unter Mitwirkung der Hofkapelle führten Mitglieder der Sodalitas litteraria Danubiana, also Petrus Bonomus, Joseph Grünpeck, Dietrich Ulsen und Vinzenz Lang, das von Celtis verfasste fünfaktige Huldigungsspiel auf den König und seine Gemahlin auf. Im Spiel treten nacheinander Götter und Halbgötter auf und rezitieren panegyrische Gedichte auf Maximilian. Zum Ende jeden Aktes werden Oden chorisch gesungen und getanzt.[19]

    Doch geht dieses Spiel in verschiedener Weise „über die Bühne“ hinaus; darin unterscheiden sich – abgesehen vom Fehlen von Dialogpartien[20] – im besonderen Maße die von Celtis durchgeführten Inszenierungen antiker Dramen von Terenz und Seneca.[21] Der König und seine Gemahlin sind selbst in das Spiel eingebunden. Das ist besonders eindrücklich im dritten Akt, als Maximilian Vinzenz Lang zum poeta laureatus krönt. Damit sind die Grenzen zwischen Aufführenden und Publikum verwischt.[22] Weiters erschien das Bühnenwerk im Druck. Damit sollte jedoch nicht die wiederholte Aufführung des Stückes gesichert werden. Der Druck ist vielmehr darauf hin angelegt, diese einmalige Aufführungssituation und Feierlichkeit festzuhalten und zu dokumentieren. Mit besonderer Betonung der Musik, der Choreographie, der Kostüme,[23] sind ganze Szenenbilder und Requisiten angeführt.[24]

    An zwei Stellen wird im Erstdruck nicht nur auf Musik hingewiesen, sondern es werden auch Noteneinlagen beigefügt: Am Ende des ersten Aktes singt der Chor der Nymphen zu Ehren Maximilians und Bianca Maria Sforzas im vierstimmigen, vollständig metrisch durchgeführten Satz ein Distichon und entspricht damit dem in den Melopoiæ vertretenen Modell des Odengesangs (» Notenbsp. Chor Maxmilianeas, Nymphe).[25]

     

     

    Der ebenfalls mit einer Noteneinlage versehene Dankesgesang Regis eternas (» Notenbsp. Chor Regis eternas) am Ende des dritten Aktes, nach der Dichterkrönung, ist hingegen dreistimmig und die sapphische Strophe nicht metrisch vertont. [26] Zudem ist die Mittelstimme leicht figuriert, wie die Übertragung in moderne Notenschrift zeigt.[27]

     

     

    Die gedruckte Fassung des » Ludus Dianæ zeigt somit exemplarisch, dass Odenvertonungen auch in den Theaterformen einen „Sitz im Leben“ hatten. Damit ehrte Celtis Maximilian nicht allein im sprachlichen Medium der Odendichtung, sondern seine szenisch performative Herrscherhuldigung umfasste auch den musikalischen Vortrag.

  • Vorbilder und Intentionen des Ludus Dianæ

    Celtis konnte mit seinem Spiel an Vorbilder und Praktiken in Italien und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation anknüpfen. Der vor italienischer Gesandtschaft zu Ehren Maximilians und seiner Frau Bianca Maria Sforza aufgeführte Ludus Dianæ erinnert an die italienische Art zu feiern.[28] An italienischen Höfen[29] – u. a. in Mailand, der Heimatstadt von Bianca Maria – waren Spiele sehr verbreitet. Aufführungsanlässe waren Feste, wie Karneval oder Hochzeiten; mit den Spielen wurden mitunter bestimmte Personen geehrt. Dabei konnten in ähnlicher Weise wie bei Celtis die Gefeierten Teil des Spieles sein.[30] Anders als Celtis’ lateinisches Bühnenstück sind die italienischen Spiele häufig in der Volkssprache gehalten. Doch lassen sich ebenfalls wie bei Celtis‘ Spiel, dessen fünfteiliger Aufbau und der Auftritt mythologischer Figuren an die Antike gemahnt, Anklänge an das antike Drama erkennen.[31]

    Auch in Italien bevorzugte man im Spiel einen einfachen musikalischen Satz. Es konnte zudem einstimmig gesungen oder auch improvisiert werden – ein berühmtes Beispiel hierfür ist Angelo Polizianos Orfeo (Mantua 1480, gedruckt » 1494). Vor diesem Hintergrund erscheint die zweite, nicht metrisch gehaltene Notenbeigabe des Ludus Dianæ wie eine Hommage an die italienische Praxis.[32] Die saphhische Strophe entspricht rhythmisch den Vertonungen dieses Versmaßes im römischen Eklogengesang, wie zum Beispiel in Michele Pesentis Frottolavertonung des Horaz’schen Integer vitae.[33]

    Innerhalb des Heiligen Römischen Reichs war Celtis ebenfalls bereits Teil einer Bewegung, deren Bestreben es war, Spiele mit humanistischen Zügen aufzuführen, d. h. in Anlehnungen an antike Theorien und Praktiken. Peter Luder, Johannes Reuchlin, Jacob Locher, alle wie Celtis humanistisch gebildet, dem Kaiserhof verbunden und durch einen Italienaufenthalt geprägt, bemühten sich um die antiken Dramen und brachten diese oder neu verfasste Werke auf die Bühne. Luder, einer der ersten deutschen Humanisten, strich den Wert von Terenz‘ Komödien hervor.[34] Auch Reuchlin – von Zeitgenossen als erster deutscher Komödienschreiber betitelt – machte sich um die Komödie verdient. Sein ebenfalls mit Musikeinlagen versehener Henno erlebte zahlreiche Auflagen.[35] Celtis machte seinen Schüler Locher mit der Idee vertraut, dass das Theaterspiel, insbesondere die Tragödie, für die Staatspolitik von Nutzen sei.[36] In seinen (noch vor Celtis’ eigenen Bühnenentwürfen aufgeführten) äußerst historisch-politisch gehaltenen Dramen bedachte Locher von Anfang an die musikalische Umsetzung: Im Druck der » Historia de Rege Frantie (1495) sind einfach gehaltene dreistimmige Stücke gesetzt.[37]

    Die Überlegungen zur metrischen Odenvertonung waren für Celtis nicht allein gelehrtes Wissen und nicht allein auf die pädagogische Funktion beschränkt, die Metren in den Köpfen der Schüler zu verankern. Bereits in den Melopoiæ ist mit dem Verweis auf die eigenen, den Metren des Horaz entsprechenden Gedichte der Anspruch angezeigt, auch aktuell von Belang zu sein. Im theatralisch ausgestalteten Herrscherlob war der metrische, vierstimmig-homophone Odenvortrag ein Mittel, die Wirkung zu steigern. Doch waren für Celtis – das zeigt etwa das dreistimmige Beispiel im Ludus Dianæ – auch andere musikalische Vortragsformen lateinischer Lyrik denkbar.[38]

  • Geschichtliche Vorläufer von Celtis‘ Oden

    Im Schaffen von Celtis kreuzen sich mehrere Linien und Tendenzen des Odengesangs in Mittelalter und Renaissance. Lateinische Versdichtung nicht nur zu lesen, sondern auch zu singen, war eine im Vorwort formulierte Zielsetzung der Melopoiæ. Auch im Mittelalter gab es solche Bestrebungen. Es liegen mittelalterliche Handschriften vor, die auf den gesanglichen Vortrag lateinischer Dichtung hinweisen: Über den Texten von Horaz, Terenz, Boethius u. a. sind dort Neumenzeichen eingetragen. Anders als die von Celtis präsentierten Sätze war der Gesang freilich meist einstimmig und nahm wahrscheinlich keine Rücksicht auf das das Metrum .[39]

    Aus dem 15. Jahrhundert bis zur Wende zum 16. Jahrhundert sind mehrstimmige Beispiele überliefert. In den Trienter Codices beispielsweise ist die Horazode Tu ne quaesieris in einem einfachen, wenig melismatischen vierstimmigen Satz erhalten, dessen Melodie das Metrum des Textes nicht berücksichtigt.[40] In verstreuten Quellen gibt es aber Hinweise, dass die Metrik als Determinante des musikalischen Satzes an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum gepflegt wurde – wenngleich nicht immer als vierstimmiger Gesang. In einem heute in Freiburg befindlichen Anhang zur gedruckten Ausgabe von Boethius’ »  De consolatione philosophiae (Leipzig 1507) beispielsweise sind einstimmige Melodien sowie zwei- und vierstimmige Sätze zu den Metren notiert.[41]

    Der Überlieferungsbefund legt außerdem nahe, dass die Sätze der Melopoiæ zur Zeit der Drucklegung bereits zirkulierten. In einer Handschrift aus dem Kloster Irsee sind vierstimmige Horazoden erhalten, die nahezu konkordant mit den Sätzen des Celtisdruckes sind. Doch zeigen die Anordnung und die unterlegten Texte, dass keine Abschrift vom Celtisdruck vorliegt, sondern sich das Repertoire offenbar schon vorher verbreitet hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Melopoiæ als Überlieferung eines bereits vorhandenen Repertoires zu werten und nicht, wie häufig zu lesen ist, als Begründung einer Gattung.[42] Die musikalische Abbildung der Metrik – die Grundidee des von Celtis nachdrücklich akzentuierten Modells – ist auf italienischer Seite in den einstimmigen Melodien der » Grammatica brevis (Padua 1480) von Franciscus Niger zu finden. Damit ist nicht nur eine weitere Parallele zu italienischen Ideen manifest. Celtis griff auch eine Idee auf, die bereits unter den dem Habsburger Hof verbundenen Humanisten bekannt gewesen sein dürfte, denn Franciscus Niger pflegte insbesondere Kontakt zu Johannes Fuchsmagen, dem Kanzler von Erzherzog Sigmund von Tirol und später von Maximilian I.[43]

    Um 1500 kursierten bereits verschiedene Modelle, wie Oden gesungen werden konnten. Mit den Melopoiæ setzte Celtis den Hauptakzent auf die vierstimmig-metrische Umsetzung von antiker Dichtung in der Musik. Die von Celtis in den Melopoiæ programmatisch vorgegebene Art, lateinische Dichtung zu singen, erscheint in der Folge nahezu als Markenzeichen der dem Wiener Humanistenverbund nahestehenden Personen. 1515 legte der Hofhaimerschüler und Organist zu St. Stephan Wolfgang Gräfinger beim Wiener Verleger Hieronymus Vietor unter dem Titel » Cathemerion vertonte Prudentiushymnen vor. Joachim Vadian, der von 1512–14 Celtis auf den Lehrstuhl an der Universität Wien folgte, regte die Drucklegung der nach dem Vorbild der Melopoiæ gestalteten vierstimmig homophon-metrischen Kompositionen an.[44] Dass Gedichte von frühchristlichen Autoren wie Prudentius auf diese Art gesungen werden könnten, hatte Celtis bereits in der Melopoiæ intendiert. Denn ein Register verzeichnet darin nicht nur die von ihm neu gedichteten Werke als Zwilling zu bestimmten Horazgedichten, sondern auch – wenngleich versteckt am Ende des Druckes – bekannte kirchliche Hymnen.[45]

  • Nachwirkungen der Melopoiæ

    Die in den Melopoiæ propagierte Art des Gedichtvortrags ist im Wiener Kolleg auch nach dem Tod von Celtis 1508 weiter gepflegt und imitiert worden. Bis in die 1530er Jahre hinein hielten ehemalige Musiker aus Maximilians Kreis an dieser Odenpraxis fest. Paul Hofhaimer (» I. Memorialkultur. Remembering Paul Hofhaimer) und Ludwig Senfl (» G. Ludwig Senfl) gaben den Tenorstimmen der Sätze aus der Melopoiæ ein neues Gewand; Senfl lieferte sogar weitere Sätze in diesem Stil.[46]

    Auch der Einsatz des Gesangsmodells im Theaterspiel (vgl. Kap. Vorbilder und Intentionen des Ludus Dianæ) blieb weiterhin populär. In den weiteren Auflagen von Reuchlins Spielen wurden die einstimmigen Gesänge durch mehrstimmige Sätze ersetzt.[47] Der von Maximilian zum Historiographen ernannte, humanistisch gebildete Mönch Benedictus Chelidonius, der am Wiener Schottenstift wirkte, verfasste nicht nur ein Gedicht für Celtis‘ Melopoiæ.[48] Darüber hinaus beinhaltet sein 1515 aufgeführtes Huldigungsspiel » Voluptatis cum virtute disceptatio zu Ehren der zehnjährigen Erzherzogin Maria von Österreich und des Kardinaldiakons Matthäus Lang drei Chorpartien, die das metrische Schema in der Musik klar durchführen. Die kleinen rhythmischen Durchbrechungen in Alt und Bass lassen jedoch erkennen, dass er auch um musikalische Gefälligkeit bestrebt war – ohne jedoch das Metrum zu verdecken.[49] Das zeigt exemplarisch folgendes in moderne Notenschrift übertragenes Beispiel der Ode Veritas summo residens Olympo aus Chelidonius‘ Spiel (» Notenbsp. Ode Veritas summo). [50]

     

     

    Diese kleinen Abweichungen vom starren, durch die Metrik vorgegebenen Rhythmus verweisen auf die Diskussionen um das Modell von Celtis und den Status, den diese Art des Odengesangs einnahm. Zwar legen die prominenten Nachahmer Ludwig Senfl und Paul Hofhaimer nahe, dass der einfache homophone, strikt am Metrum orientierte Satz als unbestrittene Ideallösung für den Vortrag antiker Oden galt (vgl. » Hörbsp. ♫ Maecenas atavis und » Hörbsp. ♫ Jam satis terris). Doch gab es auch mehr oder minder harsche Kritik. Der in Nürnberg tätige Johannes Cochläus beispielsweise bemängelte die gar zu strikte metrische Umsetzung und ließ in seinen Modellen leichte Abweichungen zu.[51] Schärfer setzte sich Heinrich Glarean vom Modell Celtis’ab. Zwar spielte bei ihm die Umsetzung des Metrums eine wichtige Rolle, doch propagierte er die einstimmige, im Rahmen eines tonartlichen Modus improvisatorische Odenvertonung, die auch affektiv in der Melodie am Text orientiert ist.[52] Diese Einwände vermochten es jedoch nicht gänzlich, die autoritative Vorbildfunktion der Melopoiæ zu erschüttern.

[1] Birgit Lodes entthronte die » Melopoiæ als ersten Druck mit beweglichen Typen. Siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2002.

[2] Siehe zum Kolophon der » Melopoiæ: Lodes 2010, 36 f.

[3] Luh 2001, 247 ff.

[4] Zum Verhältnis von » Melopoiæ und » Harmoniæ vgl. Lodes 2010, 56 ff.

[5] Zur Deutung siehe Lodes 2010, 50 ff. sowie Luh 2001, insbesondere 210 ff.

[6] Ausführlich zum Apoll am Parnass: Luh 2001, 220 ff.

[7] Luh 2001, 247 ff.

[8] Siehe hierzu ausführlich Robert 2003, 38–40 sowie 85–92.

[10] Siehe auch Lodes 2010, 50.

[11] Einen kurzen Überblick über Conrad Celtis’ Leben bietet beispielsweise Robert 2008. Vgl. auch Plieger 2012, 184 ff. Plieger kann zeigen, wie sehr Celtis auch im Totengedenken noch den Leiter der römischen Akademie, den dem Platonismus verbundenen Pomponius Laetus, nachahmt.

[12] Insbesondere war die römische Akademie unter Pomponius Laetus Vorbild. Siehe Mühlberger 2004, 766.

[13] Vgl. hierzu und u. a. zur Rolle Celtis’ bei der Gründung: Mühlberger 2004, 766.

[14] Müller 1987, 208 f., gibt einige wichtige Stichpunkte zum Gedechtnuswerk Maximilians.

[15] Siehe dazu Mühlberger 2004, 772.

[16] Jan-Dirk Müller formuliert das Paradox der höfischen Renaissancekultur folgendermaßen: „Nur die Antike, ihre Mythologie und ihr Formenkanon verleihen dem Hof und an seiner Spitze dem Herrscher Glanz und Ruhm, aber die Adaptation muss stets das Adaptierte zu überbieten behaupten.“ (Müller 2009, 5).

[17] Siehe Dietl 2005, 188 ff.

[18] Zur Verbindung des Ludus Dianæ (Celtis 1501) mit dem Parnass-Holzschnitt der Melopoiæ vgl. Luh 2001, 231 ff.

[19] Siehe die Edition und den Kommentar zur Musik in Gingerick 1940, 167ff.

[21] Dietl 2005, 188 ff.

[22] Siehe zu diesem Aspekt Dietl 2005, 192 ff. sowie Müller 2009.

[23] Schütz 1948, 114 ff., sieht enge Verbindungen zwischen der Götterdarstellung in den Holzschnitten von Celtis’ Druckwerken und der Beschreibung der Darstellerkostüme im Spiel.

[24] Dietl 2005, 192. Zum Druck auch Müller 2009, 11 f.

[25] Frühere Übertragung: Liliencron 1890, 316.

[26] Siehe hierzu auch Müller 2009, insbesondere 7 f. Hier ist auch die Übersetzung der entsprechenden Stelle zu finden sowie eine Zusammenfassung des Dankgesanges.

[27] Übertragung aus Liliencron 1890, 359. Weitere Ausführungen finden sich ebd. 316.

[28] Zu den italienischen Festspielen als Konglomerat von Darstellung mythologischer Themen, Herrscherlob und Festbankett u. ä. siehe auch Dietl 2005, 188.

[29] Siehe das Inhaltsverzeichnis von Osthoff 1969, 5 f.

[30] Beispielsweise eine zu Ehren des Prinzen Federigo D’Aragona in Urbino 1474 aufgeführte dramatische Darstellung bezieht den gefeierten Prinzen mit ein. (Osthoff 1969, 3 ff.).

[31] Insbesondere Pomponius Laetus in Rom, dessen Schüler Celtis während seines Italienaufenthaltes war, bemühte sich um die Aufführung von antiken Dramen von Seneca und Terenz, inszenierte aber auch zeitgenössische Spiele. Dietl 2005,  189.

[32] Ausführlicher zum „italienischen Erbe“ in Conrad Celtis‘ musikalischem Odenverständnis sowie zur Kritik an der Idee, die vierstimmig-homophone, metrisch gesetzte Humanistenode sei eine eigene und abgeschlossene Gattung, siehe Andrea Horz, Lyra und Ode. Musik und Metrik in Wien um 1500 (Druckfassung des Vortrags in Vorbereitung).

[33] Osthoff 1969, 168 f.

[34] Dietl 2005, 20 ff.

[35] Dietl 2005, 160 f.

[36] Dietl 2005, 35 ff.

[37] Siehe den Hinweis in der Edition von Dietl 2005, 384 ff.

[38] Selbst die in Wien gedruckten Lautentabulaturen dieser Sätze von Hans Judenkünig dürfen nicht als Widerspruch zu Celtis‘ Idee gesehen werden. Vgl. die Sätze in folgenden Lautentabulaturen: » Hans Judenkünig, Utilis & compendiaria introductio, Wien: Johann Singriener? ca. 1515–1519; » Hans Judenkünig, Ain schone kunstlich underweisung, Wien: Johann Singriener 1523. Im Vorwort der Melopoiæ vermerkt Celtis explizit die Möglichkeit, den einstimmigen Gesang auf der Lyra zu begleiten. Darauf verweist auch Lodes 2010, 54.

[40] » I-TRbc 89, fol. 168v. Zu zwei Beispielen metrischer Umsetzung lateinischer Distichen (vor 1480) im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098) und im Strahov-Codex (» F. Bohemian Sources) vgl. Strohm 1993, 538, und Strohm 2015.

[41] Der Anhang (sowie der Boethius-Druck) liegt heute in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Handschrift 450. Weiteres siehe auch Brinzing 2001, 534 ff.

[42] Brinzing 2001, 531, relativiert bereits die Vorrangstellung von Tritonius, dem gemeinhin die Sätze der Melopoiæ zugeschrieben werden. Das Beispiel aus Irrsee ist ausführlich behandelt bei Bobeth 2010.

[43] Siehe hierzu Strohm 2015 sowie Strohm 1993, 538–539.

[44] Vgl. McDonald 2012, 72. Wahrscheinlich ist auch ein Horaz-Satz von Gräfinger überliefert, der bezeichnenderweise in Vadians Horaz-Ausgabe an den Rändern notiert ist. (Müller 2012, 149–160).

[45] Celtis 1507, fol. 144v.

[46] Siehe hierzu McDonald 2012, besonders 84 ff.

[47] Liliencron 1890, 314 ff.

[48] Celtis 1507, Inhaltsverzeichnis auf der zweiten Druckseite.

[49] Zum Spiel von Chelidonius (Chelidonius 1515) vgl. Dietrich 1959.

[50] Zur Übertragung: Liliencron 1890, 360. Weitere Ausführungen hierzu ebd., 317.

[51] Cochläus 1512, Cap. X.

[52] Zu Glareans Position siehe Horz 2012.


Empfohlene Zitierweise:
Andrea Horz: „Odengesang bei den Humanisten“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/odengesang-bei-den-humanisten> (2016).